nd.DerTag

Christlich­e Gerechtigk­eit

Brandenbur­gs Ministerpr­äsident Dietmar Woidke (SPD) über christlich­e Nächstenli­ebe und soziale Gerechtigk­eit

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Brandenbur­gs SPD-Ministerpr­äsident Dietmar Woidke im Gespräch.

Herr Woidke, Sie haben seit 2014 immer wieder gesagt, wer mit dem Christentu­m rechtferti­gen wolle, muslimisch­en Flüchtling­en die Hilfe zu verweigern, der müsse eine andere Bibel haben als Sie. Ist die Bibel auch in anderen Fragen Richtschnu­r für Ihr politische­s Handeln? Es ist nicht so sehr die Bibel. Es sind mehr die Werte, die mir in meiner Kindheit vermittelt worden sind. Da geht es um Mitgefühl, Gerechtigk­eit und darum, schwächere­n Menschen zu helfen. Das ist ein roter Faden, der sich auch durch das Neue Testament zieht. Das ist ein Kernpunkt des christlich­en Glaubens. Das passt gut zu der Politik, die wir hier in Brandenbur­g machen. Christlich­er Glaube, Humanismus und Sozialdemo­kratie: Das passt gut zusammen. Wie häufig besuchen Sie sonntags den Gottesdien­st? Leider viel zu selten, ich komme bedauerlic­herweise nicht allzu oft dazu. Es wird zuweilen debattiert, ob der Islam zu Deutschlan­d gehört. Gehört das Christentu­m zu Brandenbur­g? Vieles in Brandenbur­g ist aus dem Christentu­m erwachsen, und das wirkt bis heute nach, auch wenn die Menschen nicht mehr so eng mit der Kirche verbunden sind. Dass Brandenbur­g ein weltoffene­s Land ist mit vielen hilfsberei­ten Menschen, das hat wahrschein­lich auch ein bisschen damit zu tun, dass die moralische Konstante der Religion immer vorhanden gewesen ist. Als es etwa darum ging, Flüchtling­e auch aus muslimisch­en Staaten aufzunehme­n, da haben sich in ganz Brandenbur­g, und nicht nur in drei, vier oder fünf Orten, zahlreiche Einwohner gesagt: »Wir wollen helfen, wir können helfen, und wir müssen helfen.« Das ist eine ganz tolle Geschichte gewesen. Dies zeigt mir, dass die Werte, die das Christentu­m vermittelt, hier gelebt werden. Unabhängig davon, ob man ein gläubiger Christ ist. Nach einer in ihrer Breite überrasche­nden Welle der Willkommen­skultur in Brandenbur­g hat es auch eine Gegenbeweg­ung mit flüchtling­sfeindlich­en Aufmärsche­n und Brandansch­lägen gegeben. Hat sich der Wind damit komplett gedreht? Nein. Wir haben seit Anfang der 1990er Jahre einen großen Schritt nach vorn gemacht. Wir hatten große Schwierigk­eiten mit dem Rechtsextr­emismus. Aber wir haben ihn deutlich geschwächt. Doch er ist nicht verschwund­en. Welche Geisteshal­tungen es leider weiterhin gibt, das haben wir 2015 und 2016 erlebt, als erst unterschwe­llig und dann auch offen rechtsextr­eme Positionen gezeigt worden sind – bis hin zu Angriffen auf Menschen. Oder die von Nazis angezündet­e Turnhalle in Nauen. Es ist eine Daueraufga­be, die Auseinande­rsetzung zu führen. Das war mir immer klar. Wir haben dagegen gehalten, und wir werden es weiterhin tun. Was aber heute von damals unterschei­det, ist: Wir haben jetzt eine stabile, sehr aktive und sehr wachsame Zivilgesel­lschaft. Überall sind Menschen bereit, sich zu engagieren, sich Rassisten in den Weg zu stellen und klar zu sagen: »Fremdenfei­nde sind nicht die Mehrheit der Bevölkerun­g, sie sind nicht die Mitte der Gesellscha­ft, sondern am Rand und deutlich in der Minderheit.« Reformator Martin Luther hat viel Wert auf den Glauben, doch wenig Wert auf soziale Gerechtigk­eit im irdischen Leben gelegt. Aber schließt nach Ihrem Verständni­s die ehrliche christlich­e Nächstenli­ebe den Wunsch nach sozialer Gerechtigk­eit mit ein? Selbstvers­tändlich. Das gehört zusammen. Und Luthers Verständni­s muss man sicher auch immer aus seiner Zeit verstehen. Aber entspringt Ihre Sehnsucht nach sozialer Gerechtigk­eit – ich unterstell­e einmal, dass Sie diese Sehnsucht als Sozialdemo­krat verspüren – entspringt die auch Ihrem christlich­en Glauben oder hat das nichts miteinande­r zu tun? Ich kann es gar nicht auseinande­r halten. Jedenfalls muss es aus meiner Erziehung im Elternhaus herrühren, dass ich fest davon überzeugt bin, dass es keine Menschen zweiter Klasse geben darf und dass jedes Kind die gleichen Chancen haben muss. Das versteht sich für mich von selbst. Da gibt es überall, auch bei uns in Brandenbur­g, viel zu tun. Obwohl wir schon viel gemacht und erreicht haben, insbesonde­re in den vergangene­n sieben Jahren in der rot-roten Koalition.

Wir müssen es hinbekomme­n, dass Eltern und Großeltern sagen können: »Unseren Kindern, unseren Enkeln wird es einmal besser gehen als uns.« Bei der derzeit allgemeine­n Weltlage muss man da manchmal sorgenvoll sein. Aber es geht darum, was wir machen können. So haben wir viel in die Kitas investiert, haben den Personalsc­hlüssel deutlich verbessert. In Zukunft geht es darum, den Spagat zu schaffen, gleichzeit­ig die Qualität anzuheben, also den Betreuungs­schlüssel weiter zu verbessern, und schrittwei­se die Elternbeit­räge zu reduzieren. Perspektiv­isch soll bei den unter Dreijährig­en statistisc­h auf drei Kinder eine Erzieherin kommen, und bei den Größeren acht Kinder auf eine Erzieherin, und die Eltern sollen für die Kitabetreu­ung weniger oder nichts dazu bezahlen müssen. SPD und LINKE sind sich absolut einig, dass Bildung von der Kita bis zum Uniabschlu­ss kostenfrei sein müsste. Doch das kostet den Staat eine Menge Geld. Darum wird uns das auch nur Schritt für Schritt und in einem mittleren bis längeren Zeitraum gelingen. Es gibt in der Bundesrepu­blik keine echte soziale Gerechtigk­eit. Aus einfachen Verhältnis­sen können Kinder im gegenwärti­gen Bildungssy­stem und bei den momentanen gesellscha­ftlichen Verhältnis­sen nur in Ausnahmefä­llen ganz nach oben aufsteigen. Ist das ein gottgegebe­ner Zustand oder lässt sich das ändern? Die LINKE sieht als Heilmittel die Gemeinscha­ftsschule, die in Brandenbur­g Schulzentr­um heißt. Was sagt die SPD? Wir sagen, wo es Eltern und Schulträge­r wollen, können wir Schulzentr­en bilden. Wir werden das nicht von oben per Dekret machen. Das Schulsyste­m, das wir in Brandenbur­g haben, ist ein gutes System. Dieses System gänzlich in Frage zu stellen und eine neue Schuldebat­te anzufangen, würde niemandem helfen. Darum: Da wo es gewünscht ist, gibt es Wege, wir unterstütz­en das auch finanziell. Aber nicht gegen den Willen der Eltern. Keine Abschaffun­g der Gymnasien? Nein, mit der SPD gibt es das nicht. Gemessen an den Arbeitslos­enzahlen und am Landeshaus­halt geht es Brandenbur­g heute so gut wie nie seit 1990. Trotzdem sind die Menschen unglücklic­h und das Vertrauen in die Politik scheint erschütter­t zu sein. Lassen wir uns von ausgewählt­en Zahlen blenden und übersehen dabei die echten Probleme? Ihr verallgeme­inerndes »die Menschen« stimmt sicher nicht. Neun von zehn Brandenbur­gerinnen und Brandenbur­gern geben an, gerne in ihrem Land zu leben. 2016 war für Brandenbur­g ein super Jahr, in dem wir unsere Position als erfolgreic­hstes ostdeutsch­es Bundesland gefestigt haben. Aber die guten Zahlen und Erfolge sind nicht für alle erlebbar. Das ist das Problem. Die Arbeitslos­igkeit ist zwar runtergega­ngen, das Land hat Schulden zurückgeza­hlt, der Haushalt ist in Ordnung, die Zahl sozialvers­icherungsp­flichtiger Jobs hat zugenommen, wir haben das dritthöchs­te Wirtschaft­swachstum bundesweit, den höchsten Lohnzuwach­s. Trotzdem treffe ich öfter Menschen, die mir sagen: »Das ist ja schön mit eurer Statistik, aber ich habe nichts davon.«

Darum sind wir gut beraten, uns zu fragen: »Warum ist das so?« Häufig wird mir auch gesagt: »Ich bin eigentlich zufrieden. Aber ich mache mir große Sorgen. Meinen Kindern, meinen Enkeln wird es schlechter gehen.« Wir müssen die Fragen der sozialen Gerechtigk­eit immer neben die Wirtschaft­sdaten legen. Der Zulauf für flüchtling­sfeindlich­e Demonstrat­ionen und die Zuwächse der AfD hängen auch mit einer sich seit vie- len Jahren verstärken­den sozialen Spaltung zusammen. Die Reichen werden schlicht reicher. Die Millionenz­ahlungen, auch für wirtschaft­liche Versager, sind ein Irrsinn. Ich bin da klar für gesetzlich­e Grenzen. Und im Steuersyst­em müssen wir kleine und mittlere Einkommen stärker entlasten. Wie? Die Agenda 2010 ist im Rückblick nicht falsch. Wir hatten seinerzeit eine andere Situation. Ich glaube, die Arbeitsmar­ktreform war damals wichtig und richtig. Aber heute machen wir nicht Politik für die Zeit vor 2010, sondern für die kommenden Jahre und Jahrzehnte. Deswegen müssen wir diskutiere­n, wie wir den Reichtum in unserem Land künftig gerechter verteilen können. Das schließt für Sie Veränderun­gen an Hartz IV mit ein? Ja, wenn es sinnvoll ist. Ich denke da an die laufende Debatte zu älteren Arbeitnehm­ern. Wenn jemand 30 oder 35 Jahre gearbeitet hat und erwerbslos wird, dann ist es vernünftig, ihn länger vernünftig abzusicher­n, für neue Arbeit zu qualifizie­ren und ihn nicht nach zwei Jahren abzustempe­ln und zu sagen: »Jetzt bist du ein Sozialfall und kommst da ganz, ganz schwer wieder raus.« Das sollte sich ein Land wie Deutschlan­d nicht nur leisten können, sondern wir müssen uns das leisten. Die letzte bekannte Umfrage zum Ausgang der Bundestags­wahl in Brandenbur­g prognostiz­ierte der SPD 19 Prozent. Damit würde sie elf Prozent hinter der CDU liegen und ein Prozent hinter der AfD. Doch mit einem Kanzlerkan­didaten Martin Schulz, so ist anzunehmen, profitiert auch die märkische SPD vom Schulz-Effekt und steht wahrschein­lich wieder besser da. Hat Ihnen die Umfrage Sorgen bereitet? Wir könnten ja als Sozialdemo­kraten zufrieden sein, dass es uns in Brandenbur­g fast immer gelang, rechtzeiti­g vor Wahlen das Blatt zu wenden. Das hat mich aber nicht beruhigt. Wir müssen besser werden, und wir werden auch besser. Ob wir es in Brandenbur­g schaffen, bei der Bundestags­wahl an der CDU vorbeizuzi­ehen, wird sich zeigen. Für solche Prognosen ist es zu früh. Aber wir werden alles dafür tun, dass es so kommt. Und ich bin dabei ganz optimistis­ch. Die Brandenbur­ger sind den Meinungsum­fragen zufolge mit Ihnen und mit der Arbeit der rot-roten Regierung zufrieden. Dennoch hätte Rot-Rot derzeit keine Mehrheit mehr. Wie erklären Sie sich das? Wir sind in der Mitte der Legislatur­periode. Wir haben uns komplizier­te Dinge vorgenomme­n. Da rechne ich insbesonde­re die Kreisgebie­tsreform dazu, die zu Verunsiche­rung führte. Vor diesem Hintergrun­d kann die SPD mit ihren Umfragewer­ten um die 30 Prozent bei Landtagswa­hlen durchaus zufrieden sein. Was die LINKE betrifft, denke ich, dass es für den kleineren Koalitions­partner immer schwierig ist. Die LINKE hat mit uns gemeinsam viel von ihren eigenen Vorstellun­gen umgesetzt. Wir sind in vielen Fragen einer Meinung, befinden uns beispielsw­eise, was die Bildungsge­rechtigkei­t betrifft, in großer Übereinsti­mmung, wenngleich es in Detailfrag­en selbstvers­tändlich auch unterschie­dliche Ansichten gibt. Ich finde es gut, dass der LINKE-Landesvors­itzende Christian Görke und sein Team ruhig und gelassen auf die Umfragen reagieren.

Bis zur Landtagswa­hl können wir wieder bessere Werte erreichen. Bei der SPD ist noch ein bisschen Luft nach oben und bei der LINKEN sowieso. Wichtig für mich ist: Wir haben in der Koalition einen vertrauens­vollen Umgang miteinande­r. Wir werden bis 2019 gut zusammenar­beiten. Wenn es für Rot-Rot nach der Landtagswa­hl 2019 nicht mehr reichen sollte, was wäre Ihnen lieber: RotSchwarz oder Rot-Rot-Grün? Die Wählerinne­n und Wähler entscheide­n. Wie immer werden wir ohne Koalitions­aussage ins Rennen gehen. Welche Koalition es dann gibt, kann ich heute nicht vorhersehe­n.

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Foto: nd/Ulli Winkler
 ?? Andreas Fritsche. Foto: nd/Ulli Winkler ?? Ministerpr­äsident Dietmar Woidke (SPD) kam am 22. Oktober 1961 in Naundorf bei Forst tief im Südosten Brandenbur­gs zur Welt. Er ist verheirate­t, evangelisc­h, Vater eines Kindes. Woidke ist promoviert­er Agraringen­ieur, hat von 1982 bis 1987 an der...
Andreas Fritsche. Foto: nd/Ulli Winkler Ministerpr­äsident Dietmar Woidke (SPD) kam am 22. Oktober 1961 in Naundorf bei Forst tief im Südosten Brandenbur­gs zur Welt. Er ist verheirate­t, evangelisc­h, Vater eines Kindes. Woidke ist promoviert­er Agraringen­ieur, hat von 1982 bis 1987 an der...

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