Tränen aus dem Bücherregal
So lange sich Eselsohren als organischer Bestandteil eines Tieres präsentieren, ist alles in Ordnung. Kommen sie jedoch in Büchern vor, werden sie gar nicht geschätzt. Sie verweisen auf einen nachlässigen Benutzer, der zu bequem ist, sich eines Lesezeichens zu bedienen, um die Stelle wiederzufinden, an der er die Lektüre unterbrechen musste. Stattdessen knickt er eine Ecke um. Anschließend sehen die schön gestalteten Druckerzeugnisse aus wie ein soeben geborenes Eselchen, bei dem die Ohren sich noch nicht aufgerichtet haben. Aber ein Buch ist kein Esel, es behält diesen Knick für immer.
Vielleicht mag sich auch Ingeborg Rapoport, die Berliner Autorin eines neuen Kinderbuches, über solche Eselsohren irgendwann einmal geärgert haben. Sie war in der DDR als Kinderärztin geschätzt und machte vor zwei Jahren Schlagzeilen, als sie im Alter von 102 Jahren ihre 1937 in Hamburg vorgelegte Dissertation über Lähmungserscheinungen infolge von Diphtherie verteidigte. Als junge Frau war ihr das von den Nazis wegen ihrer jüdischen Herkunft verwehrt worden. Rapoport kam in Kamerun zur Welt, wuchs in Deutschland auf, emigrierte in die USA und durfte dort ebenfalls nicht bleiben, diesmal ihrer kommunistischen Gesinnung wegen. Bereits vor zwanzig Jahren nannte sie ihre Erinnerungen »Meine ersten drei Leben«. Inzwischen dürfte ein viertes hinzugekommen sein.
Im Kinderbucherstling, den Ingeborg Rapoport zusammen mit der erfahrenen Grafikerin Gertrud Zucker in einem kleinen Brandenburger Verlag vorlegte, bringt der Schuljunge Joshi ein Buch zum Weinen, weil er immerzu Eselsohren hinein knickt. Die ganze Familie wird auf den Plan gerufen, mitsamt der Katzen und Plüschtiere sowie eines echten Esels und dreier merkwürdiger altmodischer Menschen, die mit Hörgeräten zu tun haben. Sogar Tieren passen sie diese an. Am Ende wird ein schönes Buch gerettet, ein hochnäsiger Kater überdenkt seine Vorurteile gegenüber jammernden Schaukelpferden und lebenden Eseln, ein lesewütiger Junge wird ein wenig achtsamer und ein kreatives Team aus Menschen, Tieren und Spielzeugen bringt ein anspruchsvolles Projekt in kürzester Zeit zu einem erfolgreichen Abschluss, obwohl hinter jeder Ecke ein neues Problem lauert.
Das Ganze ist höchst amüsant zu lesen und bekommt dank der Illustrationen noch eine zusätzliche inhaltliche Dimension. Wie man mit einem kargen schwarzen Rahmen und wenigen hellbraunen Pinselstrichen nicht nur einen Kater darstellen kann, sondern einen überaus gelangweilten, von Spielzeugheulsusen genervten, das weiß Gertrud Zucker allein.