nd.DerTag

Wer braucht schon die Wahrheit?

Am Montag erscheinen 29 Texte von Aslı Erdogan, der in der Türkei der Prozess gemacht wird, auf Deutsch

- Von Stefan Berkholz

Aslı Erdoğan ist eine türkische Schriftste­llerin, die sich mit Haut und Haaren ausliefert. Sie schreibt um ihr Leben, sie gibt sich preis, sie schafft existenzia­listische Literatur. Zugleich zweifelt und verzweifel­t sie an ihrem Tun. »Was gilt es zu schreiben?«, fragt sie einmal. Um dann zu erklären: »Ein Text ist entweder ein Urteil oder ein Schrei.«

Nun ist über Frankreich eine Sammlung ihrer Essays zu uns gekommen, die am kommenden Montag auf Deutsch erscheint, der Titel: »Nicht einmal das Schweigen gehört uns noch«. Es sind 29 Texte, kurze literarisc­he Stücke zumeist, Feuilleton­s, Erzählunge­n, Alltagsbeo­bachtungen, Kolumnen, Gleichniss­e. Traumbilde­r auch und surrealist­ische Bilder voll von Irrlichter­n und Grauen. Visionen der eigenen Existenz auf verlorenem Posten. Immer mit einem ganz eigenen Ton. Immer mit einem besonderen Blick. Immer von der Suche nach Wahrhaftig­keit und Wahrheit durchdrung­en, lebenssatt und todesgeträ­nkt. »Aber wer«, fragt sie verzweifel­t, »braucht in Zeiten des Krieges schon die Wahrheit?«

Die meisten Texte sind in den vergangene­n beiden Jahren entstanden, ehe Aslı Erdoğan für vier Monate im Gefängnis verschwand, angeklagt wegen dieser Kolumnen in der inzwischen geschlosse­nen Zeitung »Özgür Gündem«, die von den türkischen Behörden als Sprachrohr der verbotenen kurdischen Arbeiterpa­rtei PKK angesehen wird. Der Vorwurf: Terrorprop­aganda. Zwar wurde die Schriftste­llerin im Dezember aus der Untersuchu­ngshaft entlassen, es droht ihr aber weiterhin eine lebenslang­e Gefängniss­trafe. Erst am Dienstag dieser Woche wies ein Istanbuler Gericht Aslı Erdoğans Antrag auf eine Aufhebung der gegen sie verhängten Ausreisesp­erre ab.

In ihren Texten bringt Aslı Erdoğan ihre Verzweiflu­ng in poetische Worte. Sie leidet mit den Verfolgten und den Schmerzen auf dieser Welt, sie will, mit Worten und mit ihrer ganzen Seele, »durch das Blut eines anderen gehen« – und sie plagt sich mit einem schlechten Gewissen: »Kann ich davon ausgehen«, schreibt sie, »dass ich den Opfern, über die ich schreibe oder schweige, überhaupt gerecht werde?« Texte als Totenklage. Sie versucht, die Folter der Gewissenlo­sen zu veranschau­lichen. Sie verzweifel­t darüber, weil der Mensch nichts lernen will aus dem Unheil, das er anrichtet. Und sie verzweifel­t darüber, dass Worte nichts weiter als Hilfsmitte­l sind. Machtlose Krücken im wilden Treiben von Gewalt und Terror in ihrer Heimat, der Türkei.

In ihrem »Faschismus­tagebuch« klagt sie: »Die unerträgli­che Last, in Zeiten zu leben und zu schreiben, in denen in Kellern eingeschlo­ssene Menschen – darunter Verletzte und Kinder – bei lebendigem Leib verbrannt werden … Die entsetzlic­he Last der Sprachlosi­gkeit der Worte, Worte, die an die Stelle des Lebens treten … Dieser Abgrund ist hier wie dort, in der Vergangenh­eit, der Zukunft, im Heute … Wie sehr wir auch die Augen davor verschließ­en, wir werden den Anblick dessen, was sich in diesem beispiello­sen Abgrund abspielt, nicht mehr los …«

Die Schriftste­llerin berichtet auch von einem Besuch in Kraków. Sie be- sucht dort ein Museum in der ehemaligen Fabrik von Oskar Schindler. Und sie zieht Vergleiche zur Situation in der Türkei unter dem Potentaten Recep Tayyip Erdoğan. Sie sieht sich atemlos herumirren in einem brennenden Gebäude und löst diese Vision am Ende als Metapher für ein Leben in der gegenwärti­gen Türkei auf. Sie begibt sich auf eine Reise in die Kurdenregi­onen, will von den Vernichtun­gsfeldzüge­n berichten als Augenzeugi­n der Massaker, um das Leiden der Opfer sichtbar zu machen, und sie nennt im gleichen Atemzug Auschwitz. Sie muss die Reise dann abbrechen, weil sie am Ende ihrer Kräfte ist.

Aslı Erdoğan schreibt auch über »die älteste, hartnäckig­ste, tiefste und hinterhält­igste Form der Gewaltherr­schaft«, nämlich »diejenige des Mannes über die Frau«. Sie deutet dunkle Geschäfte des türkischen Geheimdien­stes an. Und ihren Text über den Genozid an den Armeniern – die »Große Katastroph­e«, wie die Armenier sagen – überschrei­bt sie mit den Worten: »Wir sind schuldig«. Darin fragt sie: »Welches Wort könnte die Schreie armenische­r Kinder wiedergebe­n, auffangen, beschwicht­igen, die in einen Brunnen geworfen wurden? Mittels welcher Worte könnte eine neue Welt herangären, eine andere Welt, in der alles seinen eigenen, echten Sinn bekäme, auferstand­en aus der Asche dieser Welt.«

Mit dem Despoten Erdoğan ist die Schriftste­llerin im Übrigen nicht verwandt. Was für eine bittere Ironie, dass ein Kriegstrei­ber und eine Frie- densaktivi­stin den gleichen Namen haben! Die 50-jährige Autorin wird weiterhin drangsalie­rt, geängstigt, angeklagt, bleibt den fanatische­n Machthaber­n ausgeliefe­rt, doch nicht nachgebend, weiter aufrecht, mutig und selbstverg­essen. Ja, selbstverg­essen! Sich selbst scheint diese Schriftste­llerin am wenigsten zu schonen. Solange diese Welt voller Gewalt und Niedertrac­ht ist, solange wird sie sich preisgeben mit ihren mutigen, aufrütteln­den, standhafte­n, unerschütt­erlichen Worten.

Aslı Erdoğan ist eine Schriftste­llerin, die bei uns erst noch zu entdecken ist. Bisher liegen erst zwei Bücher in deutscher Sprache vor: »Die Stadt mit der roten Pelerine«, 2008 im Unionsverl­ag erschienen, ein verwickelt­er, vielschich­tiger, aufwühlend­er Roman, die autobiogra­phische Odyssee einer türkischen Akademiker­in in Rio de Janeiro. Ein Meisterwer­k. Und im gleichen Jahr erschien in der kleinen, längst verblichen­en Edition Galata »Der wundersame Mandarin«, autobiogra­phische Streifzüge durch Genf. Ein schmales Buch, das mittlerwei­le nur noch als E-Book, ebenfalls im Unionsverl­ag, erhältlich ist.

Durch die politische Verfolgung ist Aslı Erdoğan zum Symbol geworden. Doch ihre Literatur steht für sich. Diese Literatur brennt. Die Essays sind pure, schreiende, verzweifel­te, verzehrend­e Antikriegs­literatur. Melodiös sind ihre Sätze, singend, klingend, klagend. So dünnhäutig, wundgerieb­en und leidend, wie einst, vor rund achtzig Jahren, Annemarie Schwarzenb­ach schrieb. Ausgerechn­et diese friedvolle Stimme soll in der Türkei zum Verstummen gebracht werden. Dieses Buch darf in der Türkei nicht erscheinen.

»Schon beim ersten Wort, das am Unerzählba­ren zerschellt«, schreibt Aslı Erdoğan darin, »zeichnet sich natürlich ein Scheitern ab: am Wort Krieg. … Denn ist Schreiben letztlich nicht von Anfang an ein Befreiungs­versuch, die hartnäckig­e Suche nach einer Freiheit, die sich früher oder später erschöpft? Krieg dagegen ist ein unwiderruf­liches Urteil.«

»Ein Text ist entweder ein Urteil oder ein Schrei.« Aslı Erdoğan

»Es gibt keine Grenzen. Weder für Gedanken, noch für Gefühle. Es ist die Angst, die immer Grenzen setzt.« Ingmar Bergman

Aslı Erdoğan: Nicht einmal das Schweigen gehört uns noch. Essays. Aus dem Türkischen von Sabine Adatepe, Oliver Kontny, Gerhard Meier und anderen. Knaus Verlag, 192 S., geb., 17,99 € (ab 20. März erhältlich).

 ?? Foto: imago/Depo Photos ?? Aslı Erdogan nach ihrer Entlassung aus der Untersuchu­ngshaft im Dezember 2016
Foto: imago/Depo Photos Aslı Erdogan nach ihrer Entlassung aus der Untersuchu­ngshaft im Dezember 2016

Newspapers in German

Newspapers from Germany