Aues Aufbruch in die Moderne
Folge 111 der nd-Serie »Ostkurve«: Neuer Trainer, neues Stadion – wie der FC Erzgebirge zweitklassig bleiben will
Domenico Tedesco ist mit allerbesten Empfehlungen gekommen. Mutig war die Entscheidung des FC Erzgebirge dennoch, ihn als Trainer zu holen. Denn am sportlichen Erfolg hängt in Aue sehr viel. Was er heute könnte besorgen, hat Domenico Tedesco meist schon erledigt. In seinem Leben geht vieles schneller als gewöhnlich. Auch jetzt wieder, diesmal in Aue. Im sehr jungen Alter von 31 Jahren hat er es geschafft, Cheftrainer im Profifußball zu werden – beim FC Erzgebirge, in der 2. Bundesliga. Und als er in der vergangenen Woche offiziell vorgestellt wurde, hatte er die erste Trainingseinheit mit seiner neuen Mannschaft auch schon hinter sich.
Domenico Tedesco will keine Zeit verlieren. Damit scheint er der richtige Mann zur rechten Zeit in Aue zu sein. »Die Fackel brennt noch«, sagte Vereinspräsident Helge Leonhardt bei der Präsentation des neuen Trainers. Der FC Erzgebirge hatte seit fünf Spielen nicht mehr gewonnen und war auf den letzten Tabellenplatz abgerutscht. Sein erstes Ziel, »die Köpfe freizubekommen«, hat Tedesco schon erreicht. Erstes Spiel, erster Sieg: Am vergangenen Wochenende wurde der Karlsruher SC mit 1:0 bezwungen. Mit dem ersten Dreier seit Januar gelang auch gleich der Sprung auf den Relegationsrang.
Aus Süditalien stammt Tedesco, wurde in Rossano geboren. Berührungsängste und Anpassungsschwierigkeiten hat er im sächsischen Erzgebirge nicht. »Mich hat hier sofort die Leidenschaft der Menschen beeindruckt, wie sie an diesem Verein hängen und für ihn arbeiten«, erzählt Tedesco »nd« von seinen ersten Eindrücken in Aue. Nach dem Schlusspfiff im Spiel gegen den KSC ging er zu den Fans, hob die Arme und kreuzte sie zum Wismut-Gruß der zwei Hämmer. Begrüßt wurde er von den Anhängern mit »Glück Auf Domenico«.
Fußball verbindet eben. Er ist auch die große Leidenschaft von Tedesco. Schon als Dreijähriger war er aus Italien mit seinen Eltern nach Deutschland gekommen – er besitzt beide Staatsbürgerschaften. Sein Talent als Spieler schätzte er schnell richtig ein. Im Stuttgarter Raum schaffte er es bis in die Landesliga. Aber Tedesco wollte mehr. Also entschied er sich früh dafür, Trainer zu werden. Bei seinem Heimatverein ASV Aichwald coachte er die Kinder. Die Kleinen bei einem großen Verein, das war sein nächstes Ziel. Den Nachwuchsleiter des VfB Stuttgart, Thomas Albeck, überzeugte Tedescos Bewerbung. Fortan trainierte er die Jungen der U9. Später folgten die U10, U11 und die U13.
»Ein Trainer mit einer solchen Ausbildung ist vielleicht genau das, was wir jetzt brauchen«, begründete Helge Leonhardt die Verpflichtung Tedescos: »Er hat einen Plan von modernem Fußball.« Dem Präsidenten des FC Erzgebirge geht es in erster Linie natürlich um Erfolg. Denn nach dem sofortigen Wiederaufstieg in die zweite Liga in der vergangenen Saison, würde ein erneuter Abstieg den Verein weit zurückwerfen. Angesichts der neuen Fernsehverträge der Deutschen Fußball Liga für die 1. und 2. Bundesliga gilt das aktuell umso mehr. Am Mittwoch reichte der Verein seine Lizenzunterlagen bei der DFL ein: Bei einem Nichtabstieg kann Erzgebirge Aue mit einem Rekordetat von 14 Millionen Euro planen, in dieser Spielzeit sind es zwei Millionen weniger. Der Unterschied zur 3. Liga ist enorm: Für das Zulassungsverfahren des Deutschen FußballBundes (DFB) hat der Klub einen Etat von acht Millionen Euro angegeben.
Dass Domenico Tedesco unter großem Druck und starker Belastung erfolgreich arbeiten kann, hat er schon bewiesen. Neben seiner Tätigkeit als Jugendtrainer in Stuttgart schloss er zwei Studiengänge ab, einen Bachelor als Wirtschaftsingenieur und einen Master im Innovationsmanage- ment. Weil die Entwicklung seiner Spieler und die Ergebnisse seiner Mannschaften darunter aber nicht litten, konnte er im Sommer 2013 endlich sein Hobby auch zum Beruf machen. Der VfB verpflichtete ihn als hauptamtlichen Trainer des U17Teams. Zwei Jahre später wechselte Tedesco nach Hoffenheim, coachte dort erst die U16, dann die U19. Zeitgleich absolvierte er beim DFB die Ausbildung zum Fußballlehrer – und schloss sie 2016 als Jahrgangsbester ab: mit 1,0. Damit war er besser als Julian Nagelsmann, Hoffenheims Chefcoach und jüngster Trainer der Bundesligageschichte.
Zeugnisse und Unterlagen hätten keine Rolle gespielt, sagt Helge Leonhardt. Vielmehr sei die Verpflichtung des neuen Trainers das Ergebnis intensiver Gespräche gewesen. Diese haben auch Tedesco überzeugt. »Entscheidend war für mich, dass es von Beginn an über Fußball zu sprechen galt, nichts drum herum«, berichtet er. Fußball, auch der sogenannte moderne, wird auf dem Platz gespielt. Von Bezeichnungen wie Konzepttrainer oder Laptop-Trainer hält Tedesco nichts: »Die Begriffe suggerieren, dass ein Trainer Konzepte und Systeme im Kopf hat und versucht, diese unabhängig von den eigenen Spielern der Mannschaft aufzudrücken. Aber man darf nie den sozialen Aspekt vergessen – es geht eben immer noch um Menschen. Und es ist immer wichtig, mit Menschen zu sprechen, ihre Gefühlslage zu kennen.«
Gewisse Prinzipien hat Domenico Tedesco als Trainer natürlich schon: ballorientierte Verteidigung, schnelles, vertikales Offensivspiel. Aber seine Vorstellungen passt er immer seiner jeweiligen Mannschaft an: »Unabhängig von Konzepten oder Systemen müssen immer die Spieler im Fokus stehen, ihre Qualität und Kreativität, ihre Stärken müssen zum Tragen kommen.« Gegen Karlsruhe hat das schon gut funktioniert. »Die Tabelle lügt nicht. Der letzte Tabellenplatz war wahrscheinlich schon auch aufgrund der vielen Gegentore verdient«, meint Tedesco und will weiterhin vor allem die Defensivarbeit verbessern. Aber alles über den Haufen werfen, das kommt für ihn nicht infrage. Zuhören und beobachten – das war das Erste, was er in Aue gemacht hat. »Es geht auch darum, sich die Frage zu stellen, was ändere ich nicht, was ist gut.«
Den Aufbruch in die Moderne hat der FC Erzgebirge schon weit vor der Ankunft von Domenico Tedesco gestartet. »In unserem Stadion kann man ja ›Good bye Lenin‹ drehen«, hatte Helge Leonhardt bei einem Besuch von »nd« im August 2015 gesagt. Mit dem Umbau zu einem reinen Fußballstadion wollte der Verein seine Konkurrenzfähigkeit sichern. Mittlerweile steht der Rohbau, die Eröffnung soll planmäßig im Januar 2018 erfolgen – mit 16 485 Zuschauern. Diese Zahl steht irgendwie auch sinnbildlich für die Leidenschaft in Aue, die Tedesco so mag. Jeder der rund 16 000 Einwohner würde auch im neuen Stadion seinen Platz finden.
Der FC Erzgebirge Aue ist zwar weitgehend schuldenfrei. Aber das neue, 20 Millionen Euro teure und vom Eigentümer, dem Erzgebirgskreis, finanzierte Stadion rechnet sich nur in Liga zwei. Ein Abstieg birgt also ein finanzielles Risiko. Zudem könnte der Misserfolg wieder die Konflikte im Verein schüren, die im November auf der Mitgliederversammlung offen ausgetragen wurden. Präsident Helge Leonhardt, seinem Bruder Uwe als Aufsichtsratsmitglied und deren Cousin Wolfgang als Mitglied des Ehrenrates wurden »Vetternwirtschaft« und »hemmungslose Lügen« vorgeworfen.
All das soll Domenico Tedesco verhindern – mit sportlichem Erfolg, dem Klassenerhalt. Ihm gefällt die Aufgabe in Aue. »Ja«, antwortet er auf die Frage, ob ihn die Herausforderung eines ständigen sportlichen Überlebenskampfes besonders reizt. Angst, dass sich die Motivationskünste eines Trainers dabei schnell abnutzen könnten, hat er nicht: »In Motivation, steckt ja das Wort Motiv. Wir suchen permanent nach neuen Motiven. Ein grundlegendes ist beispielsweise die Leidenschaft zum Fußball. Es kann aber auch der Reiz sein, ein schwieriges Auswärtsspiel zu bestreiten.« Wie am Sonntag in Bochum. Und auch für den Rest der Saison hat er einen Plan. »Wir suchen in jedem Spiel eine neue und eigene Motivationen und denken nicht an Abstiegskampf.«