SOS Flüchtlingspakt
Im Streit mit Deutschland und den Niederlanden droht Ankara, den Deal aufzukündigen
Berlin. Weniger von Schwimmwesten, dafür vom Flüchtlingspakt, den die EU im März 2016 mit der Türkei schloss, hängt nunmehr das Schicksal vieler tausender Menschen ab, die aus Syrien und anderen Kriegsregionen am östlichen Rand des Mittelmeeres versuchen, nach Europa zu gelangen. Die EU-Kommission sieht den Pakt als Erfolg, da die Zahl der Migranten, die europäischen Boden erreichen, deutlich gesungen sei. »Wir betrachten das als einen gemeinsamen Erfolg, sagte der stellvertretende Sprecher der Bundesregierung Georg Streiter am Freitag in Berlin. »Die Vereinbarung funktioniert, unter anderem hat sie dazu geführt, dass das Sterben in der Ägäis und das illegale Schlepperwesen in diesem Raum deutlich zurückgegangen sind.«
Das Abkommen, nach dem die Türkei die auf den griechischen Inseln eintreffenden Flüchtlinge zurücknimmt und in gleicher Anzahl Syrer aus der Türkei in die EU einreisen dürfen, steht vielfach in der Kritik. Amnesty International bemängelte etwa die »Fiktion« zu glauben, bei der Türkei handele es sich für Flüchtlinge um einen sicheren Drittstaat. Große Gefahren für Kinder sieht das Hilfswerk der Vereinten Nationen UNICEF. Seit Abschluss des Pakts wendeten sich Familien in ihrer Not vermehrt an Menschenschmuggler und begäben sich auf noch gefährlichere Routen.
Türkischen Regierungsmitgliedern bietet der Deal im Streit mit Deutschland und den Niederlanden um AKP-Wahlkampfveranstaltungen für das geplante Präsidialsystem sowie die Inhaftierung des »Welt«-Korrespondenten Deniz Yücel willkommenes Drohpotenzial. »Wenn ihr wollt, ebnen wir jeden Monat 15 000 Flüchtlingen den Weg, die wir euch bislang nicht geschickt haben, damit ihr euch einmal wundert«, sagte zuletzt Innenminister Süleyman Soylu am Freitag in Ankara.
Etelä-Saimaa, Finnland Auch die Opposition
Der Streit zwischen der EU und der Türkei sollte nicht weiter zugespitzt werden. Die Meinungsfreiheit ist einer der wichtigsten Werte der EU, aber die Wahlkampagne der türkischen Minister ist nicht angemessen. Es wäre guter Stil, die Besuche der Minister mit Vertretern der zu besuchenden Staaten im Vorfeld abzusprechen und die Veranstaltungen beispielsweise auf geschlossene Räume zu begrenzen. Zu den europäischen Spielregeln würde auch gehören, dass die Opposition die Möglichkeit hat, ihre Meinung kundzutun.
Berlingske, Dänemark Trojanisches Pferd
Europa hat über 40 bis 50 Jahre hinweg Tausende Menschen mit türkischem Hintergrund aufgenommen, viele von ihnen haben die doppelte Staatsbürgerschaft und somit das formale Recht, an politischen Entscheidungen in der Türkei teilzuhaben. So tauchen plötzlich Konflikte in unseren Gesellschaften auf, die nichts mit modernen türkischen Europäern zu tun haben. Das wollen und können wir nicht akzeptieren. Deshalb ist es so wichtig, dass die EU gemeinsam das Trojanische Pferd abweist, das als Versammlung getarnt daherkommt.
Vatan, Türkei Unbeliebte Türkei
Die Botschaft ist eindeutig: Regierung und politische Mehrheit der Türkei sind in Europa nicht beliebt. Europa will beim Verfassungsreferendum ein Nein sehen, nur so ist das Vorgehen gegen die Regierung Erdogan zu erklären. In der Türkei haben diese Ereignisse zweifellos die nationalistischen Gefühle gestärkt, an den Urnen wird sich das als Zustimmung zur Verfassungsreform zeigen.
Pravda, Slowakei Vage Perspektive
Die Türkei muss ihre Emotionen zügeln. Auch Europa ist nicht ohne Schuld. Stets hat man der Türkei nur eine vage Perspektive geboten. Statt strategischer Überlegungen und klarer Worte überwog stets der Blick auf den Kalender und den nächsten eigenen Wahltermin. Jetzt ist es Zeit für eine eindeutige Haltung. Es wäre falsch, allen Türken die Tür zu Europa zu verschließen. Aber wir dürfen Erdogan nicht erlauben, dass er seinen Kampf gegen den Westen dauerhaft als Wahltaktik einsetzt.
Trouw, Niederlande Lieber kühlen Kopf bewahren
Die Niederlande hätten – wie Deutschland – einen kühlen Kopf bewahren sollen. Die Erklärung von Bundestagspräsident Lammert, in der er von »turbulenten, gelegentlich hysterischen Zeiten« sprach, ist ein Meisterstück von Verstand, Standhaftigkeit und praktischem Realismus. Daran hätten sich die Niederlande orientieren sollen – und sei es nur, weil zwei Länder zusammen eine stärkere Position haben als eines allein.
Arti Gercek, Türkei Der Preis für Erdogans Kurs
Unsere Gesellschaft ist so blind, dass sie nicht sehen kann, wie das alles letztlich sie selbst treffen wird. Obwohl sie alle – vom Teppichverkäufer bis zum Kellner – dafür büßen mussten, als die gut zahlenden europäischen Touristen wegblieben und dazu die Russland-Krise erlebten, denken sie wohl, dass sie die jetzige Periode überstehen werden, ohne den Preis dafür zu zahlen. Sie sehen nicht, dass sie ärmer werden, wenn Ausländer vor neuen Investitionen zurückschrecken. Noch schlimmer, sie verstehen nicht, dass am Ende die in Europa lebende islamistische türkische Gemeinschaft den Preis für den von Präsident Erdogan persönlich begonnenen antieuropäischen und antichristlichen Diskurs zahlen wird.
Duma, Bulgarien Europa als Feind
Nicht zufällig versucht Erdogan immer wieder, der EU zu drohen, wie er es auch gerade jetzt tut. Alles spricht dafür, dass der türkische Präsident die offene Konfrontation und eine Eskalation des Streits sucht. Dafür gibt es nur eine Erklärung: Er versucht verzweifelt, den Türken einzubläuen, dass Europa ihr Feind ist.