Das Mundwerk als Handwerk
»Mord und Totschlag« – ein Buch von, mit, über und für Claus Peymann
Die Uhr läuft: Im Sommer steht sein Abschied vom Berliner Ensemble an. Da kommt »Mord und Totschlag« gerade recht – ein Buch von, mit, über und für Claus Peymann.
Der Schrei gegen die Welt will immer auch Gesang, also schön sein. Was du singen kannst, hat dich noch nicht besiegt. Aber dieses Buch heißt »Mord und Totschlag«. Das wünschte sich Dichter Thomas Bernhard als ehrliches Motto über dem Wiener Burgtheater. Es meint die Wahrheit jener Theatergeselligkeit, die eine Wahrheit allen Zusammenlebens ist. In jedem Menschen, in jeder Liebe, in jedem Frieden, in jeder Bewegung, in jeder Partei, in jedem Geist, in jeder Erfahrung: Krieg. Dagegen spielen wir. Dagegen spielt auch Claus Peymann. Im Theater, also unterm Schutz sorgsam gepflegter Illusionen. Dort also, wo die Wirklichkeit nur beschränkten Zutritt hat. Lüge nennen das manche. Es ist aber Ermöglichung. Hier der Bericht davon, auf 535 Seiten.
Vorn auf dem Buchumschlag: Peymann mit einer Königskrone (bei Proben zu »Richard II.«). Sieht herrscherlich aus. Auf dem Rücktitel hängt die Krone an einem Haken. Sieht elend aus. Vorn Schein, hinten Sein: Des Königs Zeichen ist Pappe, verschwindet im Bühnenhimmel. Der König selbst ist auch ein Pappkamerad. Wahn und Wurschtigkeit des Komödiantenlebens. Grünste, stärkste Bäume wachsen nur im Kopf in den Himmel.
Claus Peymann, der Doppelkopf: Ist ganz Mime und halb Mimose. Ist als Moralist ein Kasper, aber all seine Gaukelei will doch etwas glauben machen. Wo er kindlich sein will, ist er auch albern, aber mitten im kindischen Spektakel gelingt ihm Erschütterung. Er folgt keiner marxistischen Tendenzlust, aber er attackiert jede Welt, in der nicht Menschheit geschieht, sondern vorrangig Herrschaft.
Was ist dieses Buch über den Intendanten und Regisseur? Blattsammlung, Tagebuch, Ablage, Fußnote, Reflexion, Maxime, Nach-Ruf, Skizze, Anekdote, Mitschrift, Randglosse, Traktat, Plädoyer, Telegramm, Kommentar, Schnipsel, Fingerübung, Kalender, Publikumsstimme, Journal, Interview, Aktenvermerk, Essay, Zitat, Kernsatz und Nebensatz, Exkurs, Chronologie, Spiegel und Selbstbespiegelung, Rede und Widerrede, Zwischenruf, Abschrift, Collage, Splitter, Spurenlegung und Spurenverwischung, Dokument, Spinnstunde, Entwurf und Einwurf, Schmierzettel, Beschimpfung, Liebes- und Bankrotterklärung, Kramkiste, Gedankenblitz oder auch nur -donner, Rumpelkammer, Polemik, Statistik und Statement, Zeugnis und Selbstzeugnis, Lapidarium, Fakt und Fiktion, Laune, Kaleidoskop. Ist Protokoll einer »Theaterkerkerhaft, lustvoll« (Hermann Beil). Also Freiheit. »Theater/Leben«, so der Untertitel. Das eine der Etikettenschwindel des jeweils anderen.
Peymann. Infernalisch gut gelaunt, wenn er Schlagzeilen hämmern kann. Ein Auf-Macher sozusagen. Ein Groß-Raus-Bringer. Das Mundwerk war stets Teil seines Handwerks. Kritiker prügelten ihn seit jeher gern und hochnäsig – und sind doch die glücklichsten Parasiten geblieben. Die ihn zerreißen und sich selber aufbauen dürfen an seiner Unbedingtheit, seiner Lust an der TobSucht, sei es auf der Bühne, die den Aufführungen gehört, oder auf den Bühnen, die er nur für sich selber errichtet – um sich aufzuführen, als sei er wild. Theater, das denen, die darin arbeiten, nicht immer Höchstleistungen garantieren kann, aber höchste Aufmerksamkeit.
Er will geliebt und zugleich gehasst werden – ja, Peymann ist ein Künstler mit triebhafter Außenwirkung. Aber Anmaßung braucht es schon, wenn einer das Publikum zu Maßnahmen gegen »Notverordnungen« auffordert, mit denen 1968 rebellierende Studenten kujoniert werden sollten. Anmaßung braucht es schon, wenn einer im Stuttgarter Theater zu Spenden für die zahn- ärztliche Behandlung von Gudrun Ensslin aufruft (»Filbinger hat im Fernsehen meinen Kopf gefordert«). Und Anmaßung braucht es schon, wenn einer Thomas Bernhards Österreich-Attacke »Heldenplatz« just im Wiener Burgtheater am Hitlerjubel-Heldenplatz aufführt. Keiner verstand es je besser als Peymann, öffentliche Aufregung in Vorfeldern mitunter so zu organisieren, dass diese Erregung in die künstlerischen Ereignisse hineinwirkte. Sie in Schwingungen versetzte, die sie aus sich selbst heraus mitunter gar nicht hätten entwickeln können.
Peymann, der 1937 geborene Bremer, wirkt immer wie der Bürgersohn, der Anarchist sein möchte – und der deutsche Urgrund rächt sich, indem er dem striesigen Abtrünnigen gern und fortdauernd Röte und Schweiß aufs Gesicht reibt: wie anstrengend es ist, Träumer sein zu wollen. Mehr noch: es zu bleiben. Er spielte als Kind im Weihnachtsmärchen den siebten Zwerg, sollte eine viel zu große Axt schleppen, wurde als heulendes Elend nach Hause geschickt. Die erste Neurose? Wurde deshalb Hermann Beil zu seinem lebenslangen Dramaturgen?
Er hätte Afrikanist, Anglist, Germanist, Kunsthistoriker und Soziologe werden können. Aber Studienplan stand gegen Lebensplan, und zweiterer versprach die größeren Abenteuer. So setzte Peymann in Frankfurt am Main den frühen bürgerschreckenden Peter Handke durch, gründete mit die Berliner Schaubühne am Halleschen Ufer, eroberte Stuttgart, Bochum. In dreizehn Jahren Wiener Burgtheater führte er »seine« Schauspieler Voss, Dene, Kirchner, Schwab zu beständiger Größe, und den Wiener Burg-Adel ließ er polemisch verstauben. Ja, er ist eitel – aber er hat just in diesen Wiener Jahren nicht eine einzige Inszenierung außerhalb seiner Burg gemacht. Wie viele Regie führende Intendanten oder Schauspieldirektoren können das von sich sagen?
Eine wahre theatergeschichtliche Leistung: Er brachte die meisten Thomas-Bernhard-Stücke heraus. Überhaupt sein Verhältnis zu gegenwärtigen Dichtern. Libidinös! Handke und Turrini, Jelinek und Ransmayr, Heiner Müller und Thomas Brasch. Und Hanns Henny Jahnn. Tabori. Oder Kroetz. Er ist der Regisseur des deutschen Dramas und in dieser Hinsicht Anwalt, Vorkämpfer, Leidensgenosse der Autoren. Ihnen gegenüber ist er glücklicher Untertan, und daher gelangt er in ihren Lobreden (im Buch nachzulesen) zu bestformulierter Rühmlichkeit.
Seit 1999 ist er Chef des Berliner Ensembles. Hat Berliner Politik nach Kräften beschimpft. »Meine Triebkraft ist die Empörung.« Hat trotzig hingenommen, dass die Bewertung seiner Kunstausübung mitunter hinter der Resonanz für seine medialen Aufstände zurückblieb. Wien war Süden: Wallung gegen Wallung – Peymanns Welt. Die deutsche Hauptstadt ist kalt wie Sibirien. Da zeigt einer Zähne, muss seine Kraft aber gleichsam als Lamm spazieren führen. Immer hat man das Gefühl, am Theater, in dem Peymann gerade rumort, stets das ganze Peymann-Le- ben erfassen zu können – vor allem die späte Berliner Phase scheint noch einmal, im Großen wie im Begrenzten, im Glanz und in den Konflikten, im Schub wie im Scheitern dieses Gesamtkunstwerk Peymann wie in einem Brennspiegel zu offenbaren.
Wenn man ihm begegnet, schaut man in ein Gesicht, das hinter fast neurotischen Leidenschaftsbekundungen – gesetzt gegen die eigene Verhemmtheit – doch auch Ermüdung und Traurigkeit ahnen lässt. Wenn Augen groß werden, blicken sie meist nach innen; Peymann scheint den Illusionisten in sich nicht mehr ganz ohne Erschrecken zu empfinden. Aber: Noch in jedem Schwachpunkt bleibt er ein Quicklebendiger. Das macht ihn anstrengend und anrührend, unliebsam und liebenswert, nervend und nervtreffend, aufdringlich und so dringend nötig. Also einmalig.
Dieses Buch ist ein kleiner Bruder des Ziegelsteins. Irgendwie rot, irgendwie roh. Schlägt zu, wo immer du’s aufschlägst. Schlägt zu Buche dort, wo das gilt, was Thomas Brasch an Peymann schrieb: »Ich kann nicht tanzen. Ich warte nur:/ In einem Saal aus einem Saal aus Stille. Her treiben/ Geister ihren Tanz gegen die Uhr.« Diese Uhr läuft, es ist Peymann-Jahr: im Sommer der Abschied vom Berliner Ensemble, Ende einer Patriarchen-Ära, im Sommer der 80. Geburtstag. Es lodert in Berlins Kulturpolitik, in den Theaterstrukturen. Heiner Müllers Vers schließt dieses Buch ab: »Alle verlassen das brennende Haus,/ bis auf Claus, der schaut raus.« Claus Peymann: Mord und Totschlag. Theater/Leben. Hrsg. von Jutta Ferbers, Anke Geidel, Miriam Lüttgemann, Sören Schultz. Mitarbeit: Franziska Kuhn. Alexander Verlag Berlin. 535 S., geb., mit Abb., 29,90 €. Claus Peymann im Gespräch mit HansDieter Schütt. Leipziger Buchmesse, Donnerstag, 23. März, 17 Uhr, am nd-Stand G 406, Halle 5