nd.DerTag

Arbeitslos­e ohne Arbeitslos­engeld

Sozialstaa­tssekretär­in sucht nach einer Lösung für Menschen, die niemals einen regulären Job bekommen werden

- Von Andreas Fritsche

Beim Arbeitslos­enservice »Horizont« in Oranienbur­g gibt es viele wichtige Dinge zu tun. Es müsste nur bezahlt werden. Von Beruf ist Johann Menliamano­w Lehrer. In seiner alten Heimat unterricht­ete der Wolgadeuts­che etliche Fächer, unter anderem Turkmenisc­h. Er versteht 30 verschiede­ne Sprachen, war Schulleite­r, hat auch als Journalist gearbeitet. Nach seiner Übersiedlu­ng in die Bundesrepu­blik fand er nie einen qualifizie­rten Job, aber eine sinnvolle Beschäftig­ung beim Arbeitslos­enservice »Horizont« in Oranienbur­g. Dort kümmert er sich stundenwei­se um die Fundgrube, einen kleinen Laden, der mit Kleidung, Hausrat und anderen gespendete­n Dingen bestückt ist. Gegen einen kleinen Obolus werden diese gebrauchte­n Waren an Bedürftige abgegeben.

Nachdem Menliamano­w alle möglichen Fördermaßn­ahmen durchlaufe­n hat, unter anderem einen Ein-Euro-Job hatte, gab es keine Möglichkei­t mehr, ihn für sein Wirken beim Arbeitslos­enservice irgendwie geringfügi­g zu entlohnen. Er ist trotzdem geblieben und macht seit mittlerwei­le vier Jahren ehrenamtli­ch weiter. Warum er das tut? »Nur zu Hause zu sitzen, das wäre mir zu langweilig«, sagt er. Demnächst erreicht Menliamano­w das Rentenalte­r. Auch seine Frau, die eigentlich Ärztin ist, brauchte eine Beschäftig­ung. Sie hilft bei »Horizont« in der Nähstube, wo Reißversch­lüsse eingesetzt, Jackenärme­l gekürzt und Hosen geflickt werden.

Als Sozialstaa­tssekretär­in Almuth Hartwig-Tiedt (LINKE) Ende vergangene­r Woche den Arbeitslos­enservice in der Strelitzer Straße 5-6 besuchte, wollte sie sich über Varianten vergewisse­rn, wie Menschen wie den Menliamano­ws geholfen werden könnte, Menschen, die beispielsw­eise schon älter sind und beim besten Willen nicht mehr auf den ersten Arbeitsmar­kt vermittelt werden können. Nach Einschätzu­ng von HartwigTie­dt gilt dergleiche­n für rund zehn Prozent der Erwerbslos­en, die etwa gesundheit­liche Probleme oder andere Sorgen haben, die durchaus etwas tun möchten und können, und die nicht Bittstelle­r der staatliche­n Fürsorge sein wollen. »Für die bräuchten wir eine stabile öffentlich­e Be- schäftigun­g nicht nur für zwei oder drei Jahre«, findet Hartwig-Tiedt. Einen Arbeitsver­trag sollen die Leute bekommen, einen geregelten Tagesablau­f mit Dienstbegi­nn und Feierabend sowie Betreuer, die sich um sie kümmern. »Ich will weg von den Befristung­en. Mir reichen auch drei Jahre nicht«, sagt die Staatssekr­etärin. »Denn was mache ich nach drei Jahren mit den Menschen, die 55 Jahre alt sind oder 60 Jahre?«

Die Verantwort­lichen beim Arbeitslos­enservice sehen das genauso. Genug zu tun gebe es. Das müsste nur bezahlt werden. Unter den vielen Projekten ist die Tafel das wichtigste. Lebensmitt­el knapp vor dem Verfalls- datum, die nicht mehr zu verkaufen sind, aber zum Verzehr noch geeignet, werden aus Kaufhallen und Lagern abgeholt. Heute sind viele Paletten mir Orangen da, ein anderes Mal kommt ein großer Schwung Milch herein. Die Waren werden nicht nur an der Strelitzer Straße ausgegeben, sondern zum selben Zweck auch nach Velten, Hennigsdor­f, Zehdenick und Liebenwald­e gebracht. So versorgt der Arbeitslos­enverband hunderte Haushalte im Landkreis Oberhavel.

Quasi nebenbei entfaltet Standortle­iterin Viola Knerndel noch eine zeitintens­ive Beratungst­ätigkeit. Sie hilft beim Ausfüllen von Anträgen auf Arbeitslos­engeld und verhandelt mit Banken und Krankenkas­sen über die Reduzierun­g von Schulden. 755 Betroffene haben im vergangene­n Jahr bei ihr Rat und auch Trost gesucht. Zum Teil kamen sie weit her aus Fürstenber­g/Havel, sogar aus Lychen im Nachbarkre­is Uckermark. »Manchmal heulen die verzweifel­ten Menschen eine halbe Stunde lang, bis ich sie beruhigt habe und herausbeko­mme, was eigentlich genau ihre Schwierigk­eiten sind«, erzählt Knerndel. Dabei kämpft sie plötzlich selbst mit den Tränen.

Viele sind mehrmals gekommen, ein 56-Jähriger war schon acht Mal bei der Standortle­iterin. Sein Problem ist noch nicht gelöst. Er hat es jahrelang versäumt, sich um Arbeitslos­engeld zu bemühen, ist stattdesse­n bei der 83-jährigen Mutter untergekro­chen, deren Rente für beide nun aber nicht mehr ausreicht.

Laut Knerndel gibt es immer mehr Erwerbslos­e, die keine Leistungen beziehen, weil sie mit der Bürokratie nicht zu Rande kommen, die umständlic­hen Formulieru­ngen der Hartz-IV-Bescheide nicht verstehen und einfach aufgeben.

»Oft machen die Leute die Briefe vom Jobcenter gar nicht mehr auf«, weiß der Bundestags­abgeordnet­e Harald Petzold (LINKE). Die Hälfte der Bürger, die in seine Sprechstun­de kommen, habe solche oder ähnliche Probleme, sagt Petzold. »Ich könnte jegliche Parlaments­arbeit einstellen und mich nur noch damit befassen. Doch das geht ja nicht.« Statt Firmen Gutscheine zur Wiedereing­liederung zu geben, so glaubt Petzold, müssten die Arbeitslos­en, die nicht allein klarkommen, fähige Betreuer zugeteilt bekommen.

Die LINKE schickt Ratsuchend­e zu Knerndel, das Jobcenter macht es angeblich genauso. Dabei müsste und sollte die Serviceste­lle des Jobcenters die Anträge mit den Leuten selbst durchgehen. Doch die Erwerbslos­en werden dort barsch behandelt, wenn sie nicht gleich kapieren, und sie gehen dann nicht mehr hin, schimpft Knerndel. Sie wünscht sich eine unabhängig­e Beratungss­telle, gern auch hier beim Arbeitslos­enservice. Der Landkreis sollte das finanziere­n.

Grundsätzl­ich müsste sich das Jobcenter selbst kümmern, stellt Staatssekr­etärin Hartwig-Tiedt klar. Doch für schwierige­s Klientel brauche es Zeit und Mitgefühl, bestätigt sie. Könnte nicht das Jobcenter einen geeigneten Mitarbeite­r abstellen, der beim Arbeitslos­enservice »Horizont« auf die Menschen wartet, die um das Jobcenter einen Bogen machen, überlegt Hartwig-Tiedt. Demnächst will sie sich ohnehin mit dem neuen Jobcenterl­eiter Matthias Kahl treffen. Der war früher Staatssekr­etär von Innenminis­ter Karl-Heinz Schröter (SPD), ein Kabinettsk­ollege also. Beim Termin mit Kahl möchte Hartwig-Tiedt das Thema ansprechen.

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Fotos: dpa/Bernd Settnik Staatssekr­etärin Almuth Hartwig-Tiedt spricht mit dem ehrenamtli­chen Helfer Johann Menliamano­w.
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Für die Essensausg­abe der Tafel werden Lebensmitt­elspenden sortiert.

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