Arbeitslose ohne Arbeitslosengeld
Sozialstaatssekretärin sucht nach einer Lösung für Menschen, die niemals einen regulären Job bekommen werden
Beim Arbeitslosenservice »Horizont« in Oranienburg gibt es viele wichtige Dinge zu tun. Es müsste nur bezahlt werden. Von Beruf ist Johann Menliamanow Lehrer. In seiner alten Heimat unterrichtete der Wolgadeutsche etliche Fächer, unter anderem Turkmenisch. Er versteht 30 verschiedene Sprachen, war Schulleiter, hat auch als Journalist gearbeitet. Nach seiner Übersiedlung in die Bundesrepublik fand er nie einen qualifizierten Job, aber eine sinnvolle Beschäftigung beim Arbeitslosenservice »Horizont« in Oranienburg. Dort kümmert er sich stundenweise um die Fundgrube, einen kleinen Laden, der mit Kleidung, Hausrat und anderen gespendeten Dingen bestückt ist. Gegen einen kleinen Obolus werden diese gebrauchten Waren an Bedürftige abgegeben.
Nachdem Menliamanow alle möglichen Fördermaßnahmen durchlaufen hat, unter anderem einen Ein-Euro-Job hatte, gab es keine Möglichkeit mehr, ihn für sein Wirken beim Arbeitslosenservice irgendwie geringfügig zu entlohnen. Er ist trotzdem geblieben und macht seit mittlerweile vier Jahren ehrenamtlich weiter. Warum er das tut? »Nur zu Hause zu sitzen, das wäre mir zu langweilig«, sagt er. Demnächst erreicht Menliamanow das Rentenalter. Auch seine Frau, die eigentlich Ärztin ist, brauchte eine Beschäftigung. Sie hilft bei »Horizont« in der Nähstube, wo Reißverschlüsse eingesetzt, Jackenärmel gekürzt und Hosen geflickt werden.
Als Sozialstaatssekretärin Almuth Hartwig-Tiedt (LINKE) Ende vergangener Woche den Arbeitslosenservice in der Strelitzer Straße 5-6 besuchte, wollte sie sich über Varianten vergewissern, wie Menschen wie den Menliamanows geholfen werden könnte, Menschen, die beispielsweise schon älter sind und beim besten Willen nicht mehr auf den ersten Arbeitsmarkt vermittelt werden können. Nach Einschätzung von HartwigTiedt gilt dergleichen für rund zehn Prozent der Erwerbslosen, die etwa gesundheitliche Probleme oder andere Sorgen haben, die durchaus etwas tun möchten und können, und die nicht Bittsteller der staatlichen Fürsorge sein wollen. »Für die bräuchten wir eine stabile öffentliche Be- schäftigung nicht nur für zwei oder drei Jahre«, findet Hartwig-Tiedt. Einen Arbeitsvertrag sollen die Leute bekommen, einen geregelten Tagesablauf mit Dienstbeginn und Feierabend sowie Betreuer, die sich um sie kümmern. »Ich will weg von den Befristungen. Mir reichen auch drei Jahre nicht«, sagt die Staatssekretärin. »Denn was mache ich nach drei Jahren mit den Menschen, die 55 Jahre alt sind oder 60 Jahre?«
Die Verantwortlichen beim Arbeitslosenservice sehen das genauso. Genug zu tun gebe es. Das müsste nur bezahlt werden. Unter den vielen Projekten ist die Tafel das wichtigste. Lebensmittel knapp vor dem Verfalls- datum, die nicht mehr zu verkaufen sind, aber zum Verzehr noch geeignet, werden aus Kaufhallen und Lagern abgeholt. Heute sind viele Paletten mir Orangen da, ein anderes Mal kommt ein großer Schwung Milch herein. Die Waren werden nicht nur an der Strelitzer Straße ausgegeben, sondern zum selben Zweck auch nach Velten, Hennigsdorf, Zehdenick und Liebenwalde gebracht. So versorgt der Arbeitslosenverband hunderte Haushalte im Landkreis Oberhavel.
Quasi nebenbei entfaltet Standortleiterin Viola Knerndel noch eine zeitintensive Beratungstätigkeit. Sie hilft beim Ausfüllen von Anträgen auf Arbeitslosengeld und verhandelt mit Banken und Krankenkassen über die Reduzierung von Schulden. 755 Betroffene haben im vergangenen Jahr bei ihr Rat und auch Trost gesucht. Zum Teil kamen sie weit her aus Fürstenberg/Havel, sogar aus Lychen im Nachbarkreis Uckermark. »Manchmal heulen die verzweifelten Menschen eine halbe Stunde lang, bis ich sie beruhigt habe und herausbekomme, was eigentlich genau ihre Schwierigkeiten sind«, erzählt Knerndel. Dabei kämpft sie plötzlich selbst mit den Tränen.
Viele sind mehrmals gekommen, ein 56-Jähriger war schon acht Mal bei der Standortleiterin. Sein Problem ist noch nicht gelöst. Er hat es jahrelang versäumt, sich um Arbeitslosengeld zu bemühen, ist stattdessen bei der 83-jährigen Mutter untergekrochen, deren Rente für beide nun aber nicht mehr ausreicht.
Laut Knerndel gibt es immer mehr Erwerbslose, die keine Leistungen beziehen, weil sie mit der Bürokratie nicht zu Rande kommen, die umständlichen Formulierungen der Hartz-IV-Bescheide nicht verstehen und einfach aufgeben.
»Oft machen die Leute die Briefe vom Jobcenter gar nicht mehr auf«, weiß der Bundestagsabgeordnete Harald Petzold (LINKE). Die Hälfte der Bürger, die in seine Sprechstunde kommen, habe solche oder ähnliche Probleme, sagt Petzold. »Ich könnte jegliche Parlamentsarbeit einstellen und mich nur noch damit befassen. Doch das geht ja nicht.« Statt Firmen Gutscheine zur Wiedereingliederung zu geben, so glaubt Petzold, müssten die Arbeitslosen, die nicht allein klarkommen, fähige Betreuer zugeteilt bekommen.
Die LINKE schickt Ratsuchende zu Knerndel, das Jobcenter macht es angeblich genauso. Dabei müsste und sollte die Servicestelle des Jobcenters die Anträge mit den Leuten selbst durchgehen. Doch die Erwerbslosen werden dort barsch behandelt, wenn sie nicht gleich kapieren, und sie gehen dann nicht mehr hin, schimpft Knerndel. Sie wünscht sich eine unabhängige Beratungsstelle, gern auch hier beim Arbeitslosenservice. Der Landkreis sollte das finanzieren.
Grundsätzlich müsste sich das Jobcenter selbst kümmern, stellt Staatssekretärin Hartwig-Tiedt klar. Doch für schwieriges Klientel brauche es Zeit und Mitgefühl, bestätigt sie. Könnte nicht das Jobcenter einen geeigneten Mitarbeiter abstellen, der beim Arbeitslosenservice »Horizont« auf die Menschen wartet, die um das Jobcenter einen Bogen machen, überlegt Hartwig-Tiedt. Demnächst will sie sich ohnehin mit dem neuen Jobcenterleiter Matthias Kahl treffen. Der war früher Staatssekretär von Innenminister Karl-Heinz Schröter (SPD), ein Kabinettskollege also. Beim Termin mit Kahl möchte Hartwig-Tiedt das Thema ansprechen.