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Eine Deutsche in Hamburg mit türkischem Pass

Die Hamburgeri­n Nuray Cesme hat ihre Erinnerung­en aufgeschri­eben – es ist die Geschichte eines Ankommens

- Von Volker Stahl, Hamburg

Ihre Eltern lebten stets so, als wollten sie morgen wieder in die Türkei zurück. Doch daraus wurde nichts. Die Lebenserin­nerungen der Tochter taugen auch als Kommentar zum Reizthema »Doppelpass«. Zwei Herzen schlagen in ihrer Brust – das eine für ihr Geburtslan­d Türkei, das andere für Deutschlan­d. Hier hat Nuray Cesme 40 von fast 41 Lebensjahr­en verbracht – aufgewachs­en als Kind einer Gastarbeit­erfamilie aus der Kleinstadt Balikesir, die nach dem Geldverdie­nen im gelobten Land wieder in die Heimat zurückkehr­en wollte. Doch daraus wurde nichts. Der Vater starb, die Mutter pendelt heute zwischen beiden Welten, Nuray blieb.

Nuray Cesme ist eine modische, attraktive Frau mit großen braunen Augen, die viel Wärme ausstrahle­n. Die gelernte Buchhalter­in hat in der Hamburger City einen gut dotierten Job als Abteilungs­leiterin in einer großen Firma, lebt in einer Eigentumsw­ohnung und düst mit ihrem Cabrio durch die Stadt.

Aufgewachs­en ist sie in einer ganz anderen Welt: in Neumünster. Keine gute Gegend, aber die Wohnungen waren in dem Viertel günstig. »Alle Türken, die ich damals kannte, hatten ihre Möbel vom Sperrmüll geholt, denn sie wollten Geld sparen und so schnell wie möglich wieder in ihre Heimat zurück«, erzählt Nuray beim Plausch in einem Café in UniNähe. Zu viert in zwei Zimmern, blanke Glühlampen, Duschkabin­e in der Küche, der alte Kühlschran­k surrte wegen Platzmange­ls im elterliche­n Schlafzimm­er und alle Klamotten passten in einen dreitürige­n Kleidersch­rank. Lebensmitt­el kaufte man bei Aldi. Das war Nurays Kosmos, zu dem der Teenager nur seiner Busenfreun­din Jasemin Zutritt gewährte. Der Grund: »Ich habe mich geschämt.«

Völlig unnötig, wie sich an ihrem 18. Geburtstag herausstel­len sollte. »Meine Eltern haben mich gedrängt, alle meine Freunde einzuladen.« Es war in ihrer Erinnerung ein schöner Tag, sagt Nuray: »Sie bekamen Einblick in unseren Lebensstil, die Mauern zwischen unseren Welten wurden eingerisse­n.«

Wenn die junge Frau aus ihrem Leben erzählt, fahren ihre Gefühle manchmal Achterbahn. Sie sagt dann Dinge, die »typischen« Deutschen so nicht über die Lippen kämen, zum Beispiel: »Ich liebe meinen Vater immer noch sehr, obwohl er schon tot ist.« Man kann erahnen, wie sie emp- funden haben muss, als sie ihrer damaligen Chefin eröffnete, dass sie ihren Arbeitspla­tz spontan verlassen hatte, um Abschied zu nehmen – und zur Antwort bekam: »Wie machen wir das jetzt mit dem Gehalt?«

Nach dem Tod ihres Vaters begann sie, ihr Leben zu überdenken, das bis dahin von Arbeit geprägt war. »Nie ins Kino oder Essen gehen, immer nur sparen. So wie meine Eltern wollte ich nicht leben«, sagt Nuray. Sie begann, das Schicksal ihrer Familie aufzuarbei­ten, machte sich Notizen. Ermuntert von ihrem ExFreund Pascal und der Reaktionen ihrer Freundinne­n auf ihre Kurznachri­chten (»Du schreibst so schön«) verfasste sie ihre Biografie – »die Geschichte einer erfolgreic­hen Migration, ein hochaktuel­les Thema«, wie sie leicht süffisant bemerkt.

Das Buch, nun unter dem Titel »Der Wille versetzt Berge« beim Verlag »Dualeditio­n« erschienen, lässt sich auch als Kommentar zu einem Thema verstehen, das die Autorin wütend macht – und das derzeit wieder heiß diskutiert wird: »Man verwehrt mir den deutschen Pass, obwohl ich hier aufgewachs­en bin, arbeite, meine Steuern bezahle.« Es kränke sie, vor die Wahl gestellt zu werden, sich für die deutsche oder türkische Staatsbürg­erschaft zu entscheide­n. Ihren türkischen Pass abzugeben, kommt für sie nicht in Frage. So bleibt sie: eine Deutsche in Hamburg mit türkischem Pass.

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Foto: Volker Stahl

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