Geheimnisse eines Lebens
Marina Caba Rall kam als Zehnjährige nach Deutschland und rührt in ihrem Roman »Esperanza« am Vergessenen
In das ordentliche Leben in Deutschland – wo alle glauben, die Geschichte sei bewältigt, wo der Schulunterricht als Beleg für eine historisch reine Weste gilt – in dieses schöne, ruhige Leben mischt sich ein Toter ein: Ramón war einer von den Vielen, die Franco, der spanische Diktator und gute Freund der Bundesrepublik, hat umbringen lassen. Längst war der spanische Bürgerkrieg von den Faschisten gewonnen, doch in den Bergen gab es damals noch Partisanen, die den Kampf nicht aufgegeben hatten. Einer von ihnen war der Onkel von Esperanza, der spanischen Gastarbeiterin, die dem Buch von Marina Caba Rall den Namen gegeben hat.
Drei waren sie unter den Steineichen nicht weit vom Dorf des kleinen Mädchens, drei damals junge Leute, die von der Rache der Franquisten erwischt wurden. Die kleine Esperanza kann sie sehen, kann ihr letztes Lied hören. Es mag »Ay Carmela« gewesen sein, die Hymne der republikanischen Spanier: »Aber nichts vermögen Bomben/ Gegen heiße Herzen/ Ay, Carmela! Ay, Carmela!« – Schüsse beenden das Lied, doch das Bild des Mordes, das Bild ihres Lieblingsonkels, bleibt wie tätowiert im Gedächtnis von Esperanza. Eine Locke von ihm nimmt sie mit auf ihrer Reise von Deutschland nach Spanien, in das Land, in dem sie nicht mehr heimisch ist. Denn Ramóns Überreste sollen gefunden werden und ein ordentliches Grab bekommen.
Marina Caba Rall rührt an scheinbar Vergessenes. Denn bis heute wird die öffentliche Debatte Spaniens den Opfern des Franquismus nicht ge- recht. Immer noch warten viele, zu viele darauf, dass ihre Großmütter und Großväter einen Ort der Erinnerung finden. Darauf, dass sie rehabi- litiert werden als das was sie waren: mutige Frauen und Männer, die ihr Land mit dem eigenen Leben gegen die spanische Diktatur verteidigt haben. Dass die Mörder, die Helfer und Helfershelfer Francos ihre Strafe fin- den, darauf darf niemand hoffen: Immer noch gilt in Spanien der Faschismus nicht als strafwürdig.
Doch Esperanza begegnete nicht nur der verdrängten Geschichte der spanischen Gesellschaft. Ihre eigene Geschichte birgt ein Geheimnis, das sie auch vor sich selbst, vor ihrem Mann und ihrer Tochter verschließt: Sie hatte einen Sohn, ein Kind, das, nun erwachsen, seine Mutter kennenlernen will. Es sind feine, aber hochfeste Fäden, aus denen die Autorin – die 1964 in Madrid geboren, als Zehnjährige nach Deutschland kam – ihre Geschichte knüpft. Es ist ein Netz geworden, das in einem Meer der Tränen erfolgreich nach Worten für den Schrecken gefischt hat und das dem Leser einen reichen literarischen Fang auf den Tisch bringt.
Aus der Geschichte von Schuld und Liebe, aus dem nur scheinbar Priva- ten, steigt hier jene Rührung auf, die zu anderen Zeiten zum Aufruhr hätte führen können: Immer noch gibt es in Spanien mehr als 30 000 Opfer der Rache Francos, die nicht identifiziert sind. Und immer noch ist die Kumpanei der Bundesrepublik mit dem spanischen Faschismus tabu.
Marina Caba Rall ist eine Entdeckung: Sprachmächtig, mit dem Mut zur Nähe und zur Wirklichkeit begabt, erzählt sie mit großer Liebe zu ihren Figuren von der Liebe zur historischen und zur privaten Wahrheit. Aus ihrem Buch kann der Leser klüger herauskommen als er hineingegangen ist: »Erinnerung ist erfinden und beharren, bewahren und verstehen, beschwören und verändern.«
Immer noch gibt es in Spanien mehr als 30 000 Opfer der Franco-Rache, die nicht identifiziert sind.
Marina Caba Rall: Esperanza. Roman. Verlag Klaus Wagenbach. 185 S., geb., 19,90 €.