Späte Geständnisse, neue Erkenntnisse
Die Studie über gedopte westdeutsche Leichtathleten beeinflusst auch die aktuelle Spitzensportreform
Das offenbar weit verbreitete Doping unter westdeutschen Topathleten sorgt weiterhin für Wirbel. Der Fall rückt auch die Spitzensportreform wieder in den Fokus. Keine Frage, Clemens Prokop wird sich das Buch nächste Woche kaufen. »Ich bin gespannt darauf, die Studie zu lesen, um die neuen Erkenntnisse richtig einordnen zu können«, sagte der Präsident des Deutschen Leichtathletik-Verbandes: »Wie sahen die Strukturen aus, vor welchem Hintergrund geschah das damals?«
Die Doktorarbeit von Simon Krivec, in der unter anderem 31 bundesdeutsche Leichtathleten zugeben, in den sechziger, siebziger und achtziger Jahren anabole Steroide genommen zu haben, sorgt weiter für Wirbel. Auch wenn die Tatsache, dass in Ost und West gedopt wurde, niemanden »mehr wirklich überraschen« kann, wie Prokop sagte, hat die Diskussion um die zu ziehenden Konsequenzen aus der Arbeit, die am Montag veröffentlicht wird, längst begonnen. Besonders im Hinblick auf die Spitzensportreform, die stark auf den Gewinn von Medaillen ausgelegt ist.
Für Krivec gerate die heutige Athletengeneration durch die Reform des Deutschen Olympischen Sportbundes (DOSB) in eine Zwickmühle wie früher ihre Vorgänger – entweder sie dopen und bringen Ergebnisse, oder sie verlieren durch weniger gute Platzierungen ihre Förderung. »Das ist ein Rückschritt«, sagte Krivec der »FAZ«.
Der DOSB, Mitinitiator der Reform, glaubt nicht an die Gefahr von gesteigertem Dopingmissbrauch durch die Reform. »Bei allen aktuellen Diskussionen zur langfristigen Entwicklung des deutschen Leistungssports wird die Anti-Doping-Ar- beit und deren weltweite Umsetzung natürlich berücksichtigt«, teilte der DOSB mit. Sinn der Neuordnung sei es, »die Rahmenbedingungen für Athletinnen und Athleten so zu gestalten, dass sie ihre Potenziale ausschöpfen können«, hieß es.
Prokop hat sich bei der »Fixierung auf Medaillen im Rahmen der Reform stets kritisch geäußert, weil gerade in der Leichtathletik eine enorme internationale Leistungsdichte herrscht«, sagte der Jurist: »Nur durch intelligentes Training mit Nationen mithalten zu können, die sich durch unzureichende Kontrollsysteme einen Vorteil sichern, ist eine große Herausforderung, aber alternativlos. Die Leichtathletik ist jedoch auf Gelder des Bundes angewiesen, um unsere Athleten ausreichend fördern zu können.« Inwieweit die Krivec-Studie »zur Beurteilung einer aktuellen Reform dienen kann, bleibt abzuwarten«, sagte Prokop.
Dass nicht nur in der DDR gedopt wurde, sondern auch im Westen nach dem Anabolikaverbot durch den Weltverband IAAF 1970, war schon länger bekannt. »Klar«, sagt der ehemalige Diskuswerfer Alwin Wagner schon seit Jahren: »Wer damals vor allem bei uns Werfern, aber sicher auch in anderen Bereichen, konkurrenzfähig sein wollte mit den Athleten aus dem Ostblock und den USA, der konnte Dopingmittel nicht ablehnen.« Wagner und sein Disziplinkollege Klaus-Peter Hennig erlaubten Krivec, ihre Namen in der Studie zu nennen. Ein anderer ehemaliger Top-Athlet, der seinen Namen nicht öffentlich gemacht haben will, sagte dem SID: »Wären wir netto angetreten, hätten wir gegen die Brutto-Athleten doch keine Chance gehabt.«
Nach den neuen Enthüllungen hat auch der frühere Kugelstoßer Gerhard Steines über die Einnahme von Anabolika in seinem Blog berichtet. »Krivec hat offenbar verdienstvolle wissenschaftliche Arbeit geleistet«, schrieb Steines. »Aber er hat ›nur‹ wissenschaftlich exakt bewiesen, was alle zu wissen glaubten, wie ein Axiom, das so offensichtlich ist, dass es des Beweises nicht bedarf.«
Willi Wülbeck begrüßte indes die Geständnisse. »Auch wenn es spät kommt, ist Ehrlichkeit nie verkehrt«, sagte der 800-m-Weltmeister von 1983: »Im Alter ist es natürlich leichter, Reue zu zeigen, aber wenn es der Sache dient, ist das gut.« Er selbst habe bei den Olympischen Spielen 1976 in Montreal sowie bei sportmedizinischen Untersuchungen die »KolbeSpritze« angeboten bekommen, sagte Wülbeck: »Aber ich habe immer abgelehnt. Mein Trainer und ich wussten ja nicht, was da wirklich drin war.« Bei der Kolbe-Spritze handelte es sich um eine Injektion leistungssteigender Substanzen, die zur damaligen Zeit nicht verboten waren.