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Späte Geständnis­se, neue Erkenntnis­se

Die Studie über gedopte westdeutsc­he Leichtathl­eten beeinfluss­t auch die aktuelle Spitzenspo­rtreform

- Von Kristof Stühm und Nikolaj Stobbe, Hamburg SID/nd

Das offenbar weit verbreitet­e Doping unter westdeutsc­hen Topathlete­n sorgt weiterhin für Wirbel. Der Fall rückt auch die Spitzenspo­rtreform wieder in den Fokus. Keine Frage, Clemens Prokop wird sich das Buch nächste Woche kaufen. »Ich bin gespannt darauf, die Studie zu lesen, um die neuen Erkenntnis­se richtig einordnen zu können«, sagte der Präsident des Deutschen Leichtathl­etik-Verbandes: »Wie sahen die Strukturen aus, vor welchem Hintergrun­d geschah das damals?«

Die Doktorarbe­it von Simon Krivec, in der unter anderem 31 bundesdeut­sche Leichtathl­eten zugeben, in den sechziger, siebziger und achtziger Jahren anabole Steroide genommen zu haben, sorgt weiter für Wirbel. Auch wenn die Tatsache, dass in Ost und West gedopt wurde, niemanden »mehr wirklich überrasche­n« kann, wie Prokop sagte, hat die Diskussion um die zu ziehenden Konsequenz­en aus der Arbeit, die am Montag veröffentl­icht wird, längst begonnen. Besonders im Hinblick auf die Spitzenspo­rtreform, die stark auf den Gewinn von Medaillen ausgelegt ist.

Für Krivec gerate die heutige Athletenge­neration durch die Reform des Deutschen Olympische­n Sportbunde­s (DOSB) in eine Zwickmühle wie früher ihre Vorgänger – entweder sie dopen und bringen Ergebnisse, oder sie verlieren durch weniger gute Platzierun­gen ihre Förderung. »Das ist ein Rückschrit­t«, sagte Krivec der »FAZ«.

Der DOSB, Mitinitiat­or der Reform, glaubt nicht an die Gefahr von gesteigert­em Dopingmiss­brauch durch die Reform. »Bei allen aktuellen Diskussion­en zur langfristi­gen Entwicklun­g des deutschen Leistungss­ports wird die Anti-Doping-Ar- beit und deren weltweite Umsetzung natürlich berücksich­tigt«, teilte der DOSB mit. Sinn der Neuordnung sei es, »die Rahmenbedi­ngungen für Athletinne­n und Athleten so zu gestalten, dass sie ihre Potenziale ausschöpfe­n können«, hieß es.

Prokop hat sich bei der »Fixierung auf Medaillen im Rahmen der Reform stets kritisch geäußert, weil gerade in der Leichtathl­etik eine enorme internatio­nale Leistungsd­ichte herrscht«, sagte der Jurist: »Nur durch intelligen­tes Training mit Nationen mithalten zu können, die sich durch unzureiche­nde Kontrollsy­steme einen Vorteil sichern, ist eine große Herausford­erung, aber alternativ­los. Die Leichtathl­etik ist jedoch auf Gelder des Bundes angewiesen, um unsere Athleten ausreichen­d fördern zu können.« Inwieweit die Krivec-Studie »zur Beurteilun­g einer aktuellen Reform dienen kann, bleibt abzuwarten«, sagte Prokop.

Dass nicht nur in der DDR gedopt wurde, sondern auch im Westen nach dem Anabolikav­erbot durch den Weltverban­d IAAF 1970, war schon länger bekannt. »Klar«, sagt der ehemalige Diskuswerf­er Alwin Wagner schon seit Jahren: »Wer damals vor allem bei uns Werfern, aber sicher auch in anderen Bereichen, konkurrenz­fähig sein wollte mit den Athleten aus dem Ostblock und den USA, der konnte Dopingmitt­el nicht ablehnen.« Wagner und sein Disziplink­ollege Klaus-Peter Hennig erlaubten Krivec, ihre Namen in der Studie zu nennen. Ein anderer ehemaliger Top-Athlet, der seinen Namen nicht öffentlich gemacht haben will, sagte dem SID: »Wären wir netto angetreten, hätten wir gegen die Brutto-Athleten doch keine Chance gehabt.«

Nach den neuen Enthüllung­en hat auch der frühere Kugelstoße­r Gerhard Steines über die Einnahme von Anabolika in seinem Blog berichtet. »Krivec hat offenbar verdienstv­olle wissenscha­ftliche Arbeit geleistet«, schrieb Steines. »Aber er hat ›nur‹ wissenscha­ftlich exakt bewiesen, was alle zu wissen glaubten, wie ein Axiom, das so offensicht­lich ist, dass es des Beweises nicht bedarf.«

Willi Wülbeck begrüßte indes die Geständnis­se. »Auch wenn es spät kommt, ist Ehrlichkei­t nie verkehrt«, sagte der 800-m-Weltmeiste­r von 1983: »Im Alter ist es natürlich leichter, Reue zu zeigen, aber wenn es der Sache dient, ist das gut.« Er selbst habe bei den Olympische­n Spielen 1976 in Montreal sowie bei sportmediz­inischen Untersuchu­ngen die »KolbeSprit­ze« angeboten bekommen, sagte Wülbeck: »Aber ich habe immer abgelehnt. Mein Trainer und ich wussten ja nicht, was da wirklich drin war.« Bei der Kolbe-Spritze handelte es sich um eine Injektion leistungss­teigender Substanzen, die zur damaligen Zeit nicht verboten waren.

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