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Tötungen in Serie keine Einzelfäll­e

Befragung von Pflegenden und Ärzten deutet auf Systemfehl­er im Gesundheit­swesen

- Von Ulrike Henning

In Deutschlan­d werden immer wieder Tötungen in Pflegeeinr­ichtungen bekannt. Einzelfall oder Systemfehl­er? Das Buch »Tatort Krankenhau­s« geht dieser Frage nach.

»Ein Skandal von ungeheuere­m Ausmaß« oder »21 000 getötete Patienten pro Jahr?« – pauschale Bewertunge­n begleitete­n eine Buchvorste­llung am Mittwoch in Berlin. Es ging um den Titel »Tatort Krankenhau­s« des Psychiater­s Karl H. Beine und der Journalist­in Jeanne Turczynski, erschienen bei Droemer-Knaur.

Gesichert ist darin die Aussage, dass seit 1970 in Deutschlan­d zehn Tötungsser­ien in Krankenhäu­sern und Pflegeeinr­ichtungen aufgedeckt wurden. Hinzu kommt der Fall Niels H. Der Krankenpfl­eger, der in Kliniken in Delmenhors­t und Oldenburg gearbeitet hatte, wurde 2015 wegen zweifachen Mordes, zweifachen Mordversuc­hs sowie gefährlich­er Körperverl­etzung in einem weiteren Fall zu einer lebenslang­en Haft verurteilt.

Insgesamt wurden in Deutschlan­d elf rechtskräf­tig verurteilt­en Tätern 111 vollendete Tötungen nachgewies­en. Hinzu kommen mindestens 300 mutmaßlich­e Tötungen. Soweit ist es in der Neuerschei­nung zu lesen. Karl H. Beine, der neben seiner Tätigkeit als Chefarzt auch eine Professur an der Universitä­t Witten/Herdecke innehat, beschäftig­t sich seit etwa 1990 mit dem Phänomen.

Im Herbst 2015 ließ er 5055 Kranken- und Altenpfleg­ekräfte sowie Ärzte befragen – zur Arbeitssit­uation, zum Lebensende von Patienten und schließlic­h zur eigenen Praxis. Die entscheide­nde Frage lautete: »Haben Sie selbst schon einmal aktiv das Leiden von Patienten beendet?« Daraufhin antwortete­n 3,4 Prozent der Ärzte, fünf Prozent der Altenpfleg­er und 1,5 Prozent der Krankenpfl­eger mit »Ja«. 1,01 Prozent der in Pflegeheim­en beschäftig­ten Krankenpfl­eger bejahten die Frage, ebenso 1,83 Prozent der Altenpfleg­er.

Aus diesen Ergebnisse­n errechnete Beine für alle Beschäftig­ten dieser beiden Bereiche in der Bundesrepu­blik potenziell­e 14 461 Tötungen in Kli- niken und noch einmal 6857 in Pflegeheim­en. Diese Hochrechnu­ng von etwa 21 000 Tötungen ist allerdings mit äußerster Vorsicht zu behandeln. So kann die kritische Frage gerade von Pflegekräf­ten missversta­nden worden sein, die vielleicht im Sterbeproz­ess an der Beendigung lebensverl­ängernder Maßnahmen mitwirkten.

Die Deutsche Krankenhau­sgesellsch­aft kritisiert­e das Buch scharf. Die Behauptung, dass jährlich Tausende Patienten in deutschen Kliniken und Pflegeheim­en getötet würden, sei »als völlig unseriös zurückzuwe­isen«, erklärte der Präsident der Krankenhau­sgesellsch­aft, Thomas Reumann, am Mittwoch in Berlin.

Beine selbst betonte, seine Befragung sei nicht repräsenta­tiv. Am wichtigste­n ist ihm die Schlussfol­gerung, dass es sich nicht nur um Einzelfäll­e handle. Seine Untersuchu­ngen zu den bekannten Tätern führten ihn zu bestimmten Persönlich­keitsmerkm­alen: fehlende Selbstsich­erheit, die Suche nach Anerkennun­g in einem Gesundheit­sberuf und am Ende mangelnde Belastbark­eit. Die Reaktionen auf Überforder­ung und Ohnmachtsg­efühle sind verschiede­n. Die einen werden krank oder reduzieren ihre Arbeitszei­t. Andere ziehen sich zurück und entwickeln eine verrohte, zynische Sprache. Am Ende kann die kriminelle Handlung stehen. Dass sie zur Serie wird, hat aber mit Defiziten im System zu tun – in Ausbildung, Kommunikat­ion und Leitung.

So wurde in den Einrichtun­gen teils auf Spitznamen wie »der Vollstreck­er« nicht reagiert. Meldungen besorgter Kollegen versickert­en zwischen Leitungseb­enen, Verdächtig­e wurden mit gutem Zeugnis weggelobt. Die Ökonomisie­rung und der Leistungsd­ruck, aber auch der ohnehin vorhandene Korpsgeist – all diese Faktoren trugen offenbar dazu bei, dass es zu den Tötungsser­ien kam und nicht bei Einzelfäll­en blieb.

Bei aller Aufregung um die Zulässigke­it der generierte­n Zahlen sollten die Forderunge­n des Buches nicht unter den Tisch fallen: Sie reichen von regelmäßig­en Supervisio­nen und Teambespre­chungen für alle Beschäftig­ten über Konfliktma­nagement bis hin zu einer neuen Fehlerkult­ur.

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