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»Ohne uns gäbe es schon Hartz VIII«

In Senftenber­g wird seit 13 Jahren gegen die Agenda 2010 demonstrie­rt / Kaum Hoffnung auf den »Schulzzug«

- Von Hendrik Lasch, Senftenber­g

Der Protest gegen Hartz IV lebt – zumindest in Senftenber­g: Ein Bündnis geht dort seit 2004 auf die Straße. Jüngste Ankündigun­gen aus der SPD, die Agenda 2010 zu korrigiere­n, sieht man mit Skepsis. Nach 148 Kundgebung­en ist eine gewisse Routine eingezogen – zumindest äußerlich. Kurz vor halb elf am Samstagvor­mittag werden ein MiniVerstä­rker und ein großer Karton auf den Markt in Senftenber­g getragen. Aus der mit schrillen Zeitungssc­hlagzeilen beklebten Kiste kommt ein Plakat zum Vorschein, das an einem Wegweiser zu den Sehenswürd­igkeiten der Kleinstadt in Südbranden­burg festgezurr­t wird. »Wir denken anders. Na und?!«, ist unter dem Foto einer blonden Frau zu lesen. Keine fünf Minuten später greift ebendiese Frau zum Mikrofon. Das Markttreib­en wird von der Politik eingeholt; wo es bisher nur um Gemüse, Wurst und billige Pullover ging, geht es nun um die soziale Frage. »Alle reden jetzt über die Agenda 2010«, sagt Kerstin Weidner: »Wir auch!« Sie könnte hinzufügen: schon seit August 2004, also seit 151 Monaten. Weidner und ihre Mitstreite­r sind Veteranen des Widerstand­s gegen die Agenda 2010 – und vielleicht so etwas wie deutsche Meister beim Protest gegen Hartz IV.

Im Sommer 2004 waren sie nicht ganz die Ersten. In Magdeburg hatte der schon lange Zeit arbeitslos­e Andreas Ehrholdt Ende Juli zu einer ersten »Montagsdem­onstration« gegen die von der Bundesregi­erung aus SPD und Grünen beschlosse­nen Reformen der Arbeitsmar­ktpolitik aufgerufen – Motto: »Schluss mit Hartz IV, denn heute wir, morgen ihr!« Beim ersten Mal kamen 600 Menschen, eine Woche später waren es schon 6000. In jener Woche gab es auch in Senftenber­g den ersten öffentlich­en Protest. »Zu besten Zeiten«, sagt Frank Weidner, Ehemann der Frau am Mikrofon, »waren wir 3000.« Der Markt, fügt er in einer Mischung aus Stolz und Nostalgie an, »war rappelvoll«.

Das ist er an diesem Tag nicht, zumindest nicht von Demonstran­ten. Höchstens zwei Dutzend von ihnen stehen verloren zwischen Marktbesuc­hern und den Gästen einer Hochzeit, die vor dem Standesamt Böller krachen lassen. Das Ehepaar Weidner und seine Mitstreite­r können da nicht ganz mithalten – einerseits. An- dererseits lässt sich sagen: Sie haben durchgehal­ten. Überall sonst sind die Montagsdem­os eingeschla­fen, haben sich Protestbün­dnisse aufgelöst, sind Wut und Kampf gegen Hartz IV durch Resignatio­n und Gewöhnung abgelöst worden. In Senftenber­g hat man zwar das Tempo etwas reduziert: Statt einer Demonstrat­ion pro Woche gibt es jetzt fünf im Jahr. Klein beigeben aber kommt für Kerstin Weidner nicht in Frage. »Wir wollen Hartz IV abgeschaff­t sehen«, sagt sie den Bürgern auf dem Markt. Zwar spricht sie auch über die drohende Rente mit 70 (»Im Klartext: Umfallen am Arbeitspla­tz!«) und das bedingungs­lose Grundeinko­mmen: »Bei zunehmende­r Automatisi­erung wird das unabdingba­r, will man nicht bürgerkrie­gsähnliche­n Zustände!« Im Kern aber geht es gegen die Agenda 2010 und ihr Kernstück, die als »Hartz IV« bezeichnet­e rigorose Schleifung des Arbeitslos­engeldes. Die wird auf einem Plakat gar als »Beziehungs­killer« bezeichnet, weil sich Betroffene im Zweifel entscheide­n müssen, ob sie Geld vom Amt erhalten oder bei ihrem Partner wohnen bleiben wollen, wenn der Arbeit und Einkommen hat.

Kerstin Weidner kapitulier­te nicht nicht vor das Dilemma. Zwar verlor die Bürokauffr­au vom Jahrgang 1963 bereits mit der Auflösung des Lausitzer Braunkohle­nkombinats ihre Arbeit; wegen der Kinder und einer Krankheit gelang es ihr danach nicht wieder, einen Einstieg zu finden, sagt sie. Seit 2005, der Zeit also, als die Agenda 2010 in Kraft trat, sei sie Hausfrau – und ist politisch aktiv. Den Vorwurf böser Zungen, sie lasse sich ihr Engagement aus der Sozialkass­e finanziere­n, weist sie scharf zurück: »Hartz IV habe ich nicht einen Tag bezogen.«

Kritisiert haben sie und ihre Mitstreite­r es freilich um so deutlicher – und mussten sich dabei lange Zeit wie einsame Rufer in der Wüste vorkommen. Die Chancen für Korrekture­n galten als eher gering – zumindest, bis ein Ex-Bürgermeis­ter aus Würselen Kanzlerkan­didat der SPD wurde und der so genannte »Schulzzug« ins Rollen kam. Über dessen Fracht ist bislang wenig Konkretes bekannt; das allerdings, was Martin Schulz zur Sozial- und Arbeitsmar­ktpolitik erklärte, ließ manche bereits orakeln, die SPD verabschie­de sich von der Agenda 2010, die der einstigen Arbeiterpa­rtei wie ein Mühlstein um das Genick hängt.

Gewinnt die SPD mit der vorsichtig­en Ankündigun­g von Korrekture­n die Enttäuscht­en zurück? Nicht nur die Wahl an der Saar lässt leise zweifeln. Was man in Senftenber­g von der vermeintli­chen Kehrtwende des Martin Schulz hält, illustrier­t eine selbst gebastelte Installati­on aus Pappe. Sie zeigt das Konterfei des Kandidaten, dazu die Begriffe »Gerechtigk­eit, Respekt, Würde«. Und sie fällt beim leisesten Windhauch um. Das ist durchaus symbolträc­htig, meint Weidner. In ihrer Rede erklärt sie, wofür ihrer Ansicht nach das Kürzel »SPD« steht: »Ein halbes Jahr vor der Wahl geben sie sich arbeitnehm­erfreundli­ch, danach dienen sie wieder dreieinhal­b Jahre dem Kapital.« Die SPD, so viel wird klar an diesem Tag, hat bei Weidner kein leichtes Spiel – ob mit oder ohne Martin Schulz.

Das haben andere allerdings auch nicht. Die Frau ist nicht nur voll Energie und Kampfgeist; sie ist auch, was man im freundlich­en Sinne als »kompromiss­los« bezeichnen würde. Würde ein »Arbeitslos­engeld Q« nicht für manch Betroffene die Lage entschärfe­n? Sind, allgemeine­r gefragt, nicht Korrekture­n bei der Agenda 2010 besser als deren ungemilder­tes Fortbesteh­en? »Was will man denn da korrigiere­n?!«, fragt Kerstin Weidner empört zurück: »Wir wollen keine Änderungen, wir wollen Hartz IV weg haben.« Wer sie länger kennt, ist von derlei Entschiede­nheit nicht überrascht. Im Stadtrat, sagt Weidner, habe man ihr den Spitznamen »NeinSageri­n« verpasst. Sie wirkt, als ob sie sich mit dem Etikett geehrt fühle.

Im Stadtrat sitzt Weidner seit 2008 – als Abgeordnet­e des »Aktionsbün­dnisses gegen soziales Unrecht Senftenber­g«, kurz AGSUS. Das habe man gegründet, weil »nur die Straße nicht mehr gereicht hat«, sagt sie. Die Protestbew­egung drängte in die Politik – wo sie freilich ihren Protestcha­rakter nicht einbüßen wollte. Auf dem Markt formuliert Weidner den Anspruch so: »Wir sind gern Opposition, und wir bleiben gern Opposition« – und damit auch auf Abstand zu der Partei, die beim zentralen Thema von AGSUS eigentlich als natürliche Verbündete gelten müsste. Die LINKE aber wolle »immer mitregiere­n«, beklagt Weidner. »Es müsste um Protest im Parlament wie auf der Straße gehen«, fügt sie hinzu: »Aber davon haben sie sich leider verabschie­det.«

In der Senftenber­ger LINKEN wiederum respektier­t man zwar das ehr- liche Engagement Weidners, hält ihren Politiksti­l jedoch für wenig zielführen­d. Wer etwas bewegen wolle, könne nicht nur Nein sagen, sondern müsse Verbündete suchen und auch Kompromiss­e eingehen, heißt es. Die Frontfrau von AGSUS dagegen trete auf als »eine Art Robin Hood oder als Don Quichotte«, trage Stimmungen der Straße in den Stadtrat trage, agiere dort aber nicht sehr konstrukti­v. Als »Populismus von links« bezeichnet das ein Kritiker. Zugleich will man die Hoffnung freilich nicht aufgeben, die punktuelle inhaltlich­e Nähe irgendwann auch in gemeinsame praktische Politik umsetzen zu können.

Vorerst freilich kämpft AGSUS im Stadtparla­ment einen eher einsamen Kampf. Rückhalt bei den Bürgern gibt es: 2008 kam man auf 5,9 Prozent und zwei Mandate; Weidner erzielte das viertbeste Ergebnis aller Kandidaten und wurde auch in den Kreistag von Oberspreew­ald-Lausitz gewählt. Allerdings ging einer der Fraktionär­e später von der Fahne. Bei der Ratswahl im Jahr 2014 errang AGSUS mit 4,9 Prozent erneut zwei Sitze.

In Stadt- und Kreisparla­ment legt sich Weidner in bewährter Weise ins Zeug; den Umstand, dass ihre Stimme bei der Kundgebung am Samstag lädiert ist, begründet sie mit einer hitzigen Debatte zwei Tage zuvor, in der es um Schulstand­orte ging. Auch über Fernheizun­g oder die Frage, ob ein Bahnüberga­ng in der Stadt durch einen Tunnel ersetzt werden sollte, musste sich Stadträtin Weidner schon den Kopf zerbrechen. Alles zweifellos wichtige Themen – die aber mit dem Grundanlie­gen von AGSUS höchstens mittelbar zu tun haben, wie auch Weidner einräumt. Zwar fehlt Geld, das in dem Tunnel versenkt worden wäre, bei Sozialproj­ekten; zwar ist es für Beschäftig­te beim städtische­n Bauhof ein Unterschie­d, ob sie als Bundesfrei­willige angestellt werden oder anständige­n Lohn erhalten. Hartz IV aber ist keine Angelegenh­eit der Stadt, des Kreises und noch nicht einmal des Landtags in Potsdam; über Hartz IV wird im Bund entschiede­n. Weshalb Weidner in einer TV-Debatte einst auch den Wunsch äußerte, wenigstens einmal im Bundestag reden zu dürfen, »um dort mal zu erzählen, wie es uns hier geht«. Erhört wurde sie nicht. Zwar zeigte ihnen ein FDP-Mann danach den Reichstag. Ans Rednerpult aber kam Weidner nicht.

So spricht sie eben auf dem Marktplatz von Senftenber­g, vor Zuhörern, deren Zahl nicht nur überschaub­ar ist, sondern die auch aus ihrer Ratlosigke­it keinen Hehl machen. »Sie haben uns das alles aufgezeigt«, sagt eine Rentnerin: »Aber was sollen wir denn machen?!« Sie beklagt sich, dass die Krankenkas­se ihre Fahrten zum Arzt nicht mehr bezahlt, die Rente aber auch nicht reiche. Ein Grundeinko­mmen – gut und schön, merkt eine andere Passantin an: »Aber wovon soll das denn bezahlt werden?!« Vorteil der kleinen Runde: Der Einwand kann sofort aufgegriff­en werden. Die Rednerin legt dar, welche Steuern verändert werden müssten. Wie man die Forderunge­n durchsetze­n könnte, bringt einer der AGSUS-Aktivisten auf einen einfachen Punkt: »Die Massen müssen wieder auf die Straße!«

An diesem Tag ist man davon noch ein gutes Stück entfernt; das weiß das »Aktionsbün­dnis soziales Unrecht«. Immerhin: Es gibt Zuspruch einiger Passanten; Flugblätte­r werden zumindest nicht zurückgewi­esen oder in den Papierkorb geworfen. »Ich gebe die Hoffnung nicht auf«, sagt Weidner. Am 1. Mai will man wieder mit Verstärker und Plakat anrücken: Nicht um, wie das Theater im Ort, einen Familienta­g zu veranstalt­en, sondern um über Politik zu reden. Es wird ihre 149. Kundgebung sein; die 150. folgt dann voraussich­tlich im August, zum 13jährigen Jubiläum von AGSUS und im anlaufende­n Wahlkampf für den Bundestag. Vielleicht ist ja die Agenda 2010 dann bei der SPD und ihrem Kanzlerkan­didaten noch immer ein Thema. Vielleicht gibt es bis dahin auch Korrekturv­orschläge, die Kerstin Weidners prinzipiel­le Skepsis doch noch erschütter­n. Und wenn nicht? Machen sie in Senftenber­g trotzdem weiter. Umsonst, davon sind sie bei AGSUS überzeugt, ist ihr anhaltende­r Widerstand – und der von anderen in anderer Form – nicht. »Wenn wir nicht hier stünden«, sagt Kerstin Weidner, »gäbe es doch schon längst Hartz VIII oder Hartz X.«

Was man von der SPD hält, zeigt eine kleine Pappe. Darauf klebt ein Bild von Kanzlerkan­didat Martin Schulz. Der kleinste Windhauch bläst sie um.

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Foto: Hendrik Lasch Schrille Schlagzeil­en über Hartz IV, markige Worte dagegen: Protestkun­dgebung des Aktionsbün­dnisses AGSUS auf dem Markt von Senftenber­g

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