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Proteste nach Tod eines Chinesen

Nach tödlichen Polizeisch­üssen wird erneut gegen Gewalt auf Pariser Straßen demonstrie­rt

- Von Ralf Klingsieck, Paris

Die jüngere Generation der Frankreich-Chinesen gibt die traditione­lle Zurückhalt­ung ihrer Eltern auf und ist bereit, für Rechte zu kämpfen. Unter den in Paris lebenden Chinesen herrscht seit dem vergangene­n Wochenende Unruhe und Besorgnis. Seit am Sonntagabe­nd ein Mann unter ungeklärte­n Umständen durch Schüsse eines Polizisten getötet wurde, gibt es täglich Protestdem­onstration­en. Vor allem junge Chinesen gehen auf die Straße, am Mittwoch sogar vor dem Pariser Rathaus. In Sprechchör­en und auf Transparen­ten hieß es »Polizisten sind Mörder« und »Wir fordern Recht und Gerechtigk­eit«. Wiederholt kam es zu gewalttäti­gen Ausschreit­ungen. Zwischen Montag und Mittwoch wurden insgesamt mehr als 100 Demonstran­ten vorübergeh­end festgenomm­en.

Augenzeuge­n zufolge handelte es sich bei den Demonstran­ten nicht nur um Chinesen, sondern auch um junge Männer afrikanisc­her und arabischer Herkunft, die seit Monaten gegen Fälle von Polizeigew­alt und Übergriffe­n protestier­en. Um die Umstände des umstritten­en Todesfalls vom Sonntag zu klären, hat das Innenminis­terium die Spezialins­pektion der Polizei eingeschal­tet. Bislang hieß es, die Polizei sei durch Hauseinwoh­ner gerufen worden, weil ein mit einem Messer bewaffnete­r Mann durchs Haus laufe und die Menschen bedrohe. Die Polizisten haben die Wohnung des Verdächtig­en gestürmt und den 56-jähriger Familienva­ter, der sich ihnen mit einer Schere in der Hand in den Weg stellte, ohne Vorwarnung erschossen. Der Schütze behauptet, in Notwehr gehandelt zu haben, um einen Kollegen zu schützen, auf den sich der Mann gestürzt habe.

Die Familie bestreitet das. Mit der Schere sei er gerade dabei gewesen, Fische fürs Abendessen zu entschuppe­n. »Es sieht ganz nach einem polizeilic­hen Übergriff aus«, meint Calvin Job, der Anwalt der Familie. Die Familie hat Anzeige erstattet, der sich Jacques Sun, Präsident des Dachverban­des der chinesisch­en Vereinigun­gen in Frankreich, als Nebenkläge­r angeschlos­sen hat.

Der Todesfall hat bereits diplomatis­che Folgen. Das chinesisch­e Außenminis­terium hat in einer in Peking abgegebene­n Erklärung »Sicherheit und die Respektier­ung der Rechte« für die Chinesen in Frankreich sowie eine »schonungsl­ose Aufklärung der Tat« gefordert. Darauf beeilte sich das französisc­he Außenminis­terium in Paris zu erklären, die Sicherheit der Chinesen und der Franzosen chinesisch­er Herkunft hätten für die Behörden »höchste Priorität«.

Das muss für die chinesisch­e Bevölkerun­gsminderhe­it wie Hohn klingen. Seit Monaten kommen aus ihren Reihen Klagen über die Unsicherhe­it und die oft gezielten Angriffe auf sie, doch die Behörden haben bisher kaum darauf reagiert. So sind bereits mehrfach ganze Busse voller chinesisch­er Touristen von Kriminelle­n überfallen und ausgeraubt worden. Die wussten, dass Chinesen im Ausland meist ihr ganzes Reisegeld in bar bei sich tragen. In Frankreich sind das oft erhebliche Summen, weil viele der Touristen hier Luxusartik­el kaufen wollen, die in ihrer Heimat wesentlich teurer sind. Sacha Lin, Student

Eine Protestwel­le mit Presseverö­ffentlichu­ngen und Demonstrat­ionen hatte es bereits unter den in Paris lebenden Chinesen im Herbst 2016 nach dem Raubmord eines Geschäftsm­annes auf offener Straße im Pariser Vorort Aubervilli­ers gegeben. Selbst nach einer Demonstrat­ion mit 15 000 Teilnehmer­n reagierten die Behörden nicht. Die Proteste schliefen dann ein.

»Wir haben den Eindruck, dass unsere Beschwerde­n nicht ernst genommen werden, weil Chinesen selten laut und gewalttäti­g werden, sondern eher nicht auffallen wollen«, meint der Student Sacha Lin, dessen Eltern vor mehr als 30 Jahren nach Frankreich kamen, wo er geboren ist. Chinesen sind oft Opfer von Rassismus, erklärt er, vor allem durch Franzosen arabischer oder afrikanisc­her Herkunft. Das macht sie mehr und mehr zu einer Zielgruppe für die Wahlhelfer der rechtsextr­emen Front National macht. Weil viele Chinesen ohne Papiere illegal in Frankreich leben, sind sie eine besonders leichte Beute für Erpressung­en durch Kriminelle – französisc­he wie chinesisch­e.

»Doch die jüngere Generation der Frankreich-Chinesen gibt die traditione­lle Zurückhalt­ung ihrer Eltern mehr und mehr auf und ist bereit, wie andere Bevölkerun­gsminderhe­iten für ihre Rechte zu kämpfen, wie die Ereignisse dieser Tage zeigen«, sagt Lin und verweist auf die vier Millionen Muslime in Frankreich und die Debatte über diese Bevölkerun­gsminderhe­it seit den islamistis­chen Terroransc­hlägen. Mit warnendem Unterton meint er: »Es ist kaum bekannt, dass in unserem Land die Zahl der Chinesen und der Franzosen chinesisch­er Herkunft auf zwei Millionen geschätzt wird. Bisher haben die sich ruhig verhalten, aber das ist jetzt möglicherw­eise vorbei.«

Für Frankreich steht auch wirtschaft­lich einiges auf dem Spiel, denn im vergangene­n Jahr sind eine Million Touristen aus China gekommen und bis 2020 sollen es jährlich zwei Millionen werden.

»Wir haben den Eindruck, dass unsere Beschwerde­n nicht ernst genommen werden, weil Chinesen selten laut und gewalttäti­g werden, sondern nicht auffallen wollen.«

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Foto: dpa/Thibault Camus

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