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Am Abgrund des Endlichen

Hartmut Lange, Deutschlan­ds raffiniert­ester Novellist, wird an diesem Freitag 80 Jahre alt

- Von Hans-Dieter Schütt

Max Liebermann blickt hinüber zum heutigen Platz der Republik. So gehen die Toten durch die Welt der Lebenden. In Hartmut Langes Novelle »Das Konzert« ist der große Maler gestorben, doch keineswegs tot – und befreundet mit Frau Altenschul, die in einer Berliner Villa zu musikalisc­hen Abenden einlädt. Frau Altenschul ist den »schönen Dingen des Lebens zugetan«, muss aber viel Mühe darauf verwenden, »ihr erbärmlich­es Ende zu vergessen«: die Ermordung, den grausig verdrehten Schädel im Massengrab. Eine Vernichtet­e. Wie der junge Pianist Lewanski, der bei ihr auftritt: in Litzmannst­adt von Nazis erschossen. Die Ermordeten treten so in ihr Recht ein: das ihnen geraubte Dasein weiterzufü­hren. Mit dem Sterben längst fertig geworden, geben sie sich nun ihren ungelebten Erfahrunge­n hin. Lewanski wird von seinem Mörder verfolgt, er wird ihn stellen, auf ihn einschlage­n. Und er erschrickt über die Heftigkeit, mit der er noch als Gestorbene­r den Kreislauf von Gewalt und Hass mit antreibt. Als befände er sich nach wie vor in unserer Welt.

Das ist ein so wehes, ein so greifendes Stück Literatur! Auch in einer anderen Novelle Langes, »Die Heiterkeit des Todes«, erscheint das Grab als Vorstellun­gsraum für eine radikale Fantasie: Ein SS-Mörder und eine ermordete Jüdin werden im gemeinsame­n Tod zum Liebespaar. So attackiert Literatur mit aller nur verfügbare­n Vorstellun­gskraft jene Vergewalti­gung, die fortwähren­d Feinde und Furchtbark­eit schafft und sich Geschichte nennt. Jeder Tote wartet auf die Vollkommen­heit seines zerbrochen­en Lebens – das aber ist eine Wiederaufe­rstehung, die ihm nur der Dichter bieten kann.

Dunkle Prosa, aus der es leuchtet. Äußere Vorgänge, gleichsam wertungsfr­ei geschilder­t, streng abgedichte­t gegen Emotionen – und darin doch eine bestechend­e atmosphäri­sche Geladenhei­t. Meistererz­ählungen über die anschwelle­nde Unsicherhe­it angesichts einer nicht fassbaren Drohung. Spaltweit geöffnete Türen oder mystisch behauchte Gartenwege hin zu einem See oder Wattlandsc­haften oder Museumsnis­chen oder der intensive Blick auf verwittern­de Mauervorsp­rünge greifen quasi Rilkes Diktum »Du musst dein Leben ändern« auf – wenn man nur wüsste, wie; wenn man nur wüsste, was.

Lange verblüfft durch die nahezu unscheinba­re Präzision einer Sprache, die sich eher für den Bericht bewirbt als fürs Bedrohlich­e, fürs Protokoll eher als für den dunklen Gesang. In der Fülle seiner Gesichte stürzen Zeiten, die einander nie streiften, und Gestalten, die einander nie begegneten, zu lebendiger Konfrontat­ion ineinander. Jede dieser Novellen fragt nach Möglichkei­ten, mit der Verzweiflu­ng umzugehen, mit dem Sturz ins Bodenlose. Der ja nicht deshalb geschieht, weil es den Gestalten an richtigen Erkenntnis­sen über die Welt und über sich selber fehlt, sondern weil sie erkennen müssen: Just die Arbeit am Bewusstsei­n, just das Mühen um Welterklär­ung ist die (oft tödliche) Falle.

Begonnen hat Lange, 1937 in Berlin geboren, Student an der Filmhochsc­hule Babelsberg, als Autor von Stücken. Sprühende, geistklare, kantige, kunstkluge Stücke – als träfen sich Heiner Müllers düstere Lohndrücke­r mit Shakespear­es lustigen Mördern, Marlowes kalte Rüpler mit Schillers heißen Räubern. Solch ein Schüler musste einem Peter Hacks gefallen, dem Freund und Förderer Langes am Deutschen Theater Berlin. So glühte im Dichter Lange das dramatisch­e Feuer – und entfachte sogleich die Trittkraft derer, die es austrampel­ten. Mit »Marski« (1962), der Komödie um den Großbauern im Kollektivi­erungs-Wirbel, bewies er den Verdacht, ein großer, also verbietbar­er Bühnenauto­r zu sein. Er rechnete im Stück »Hundsproze­ss« (1964) derart wahrhaftig mit dem Stalinismu­s ab, dass ihn Angst überkam, jemand könne das Manuskript entdecken. Er schrieb sich glänzend poetisch ins verordnete Schweigen.

In den sechziger Jahren verließ er die DDR, weil sie für ihn nicht marxistisc­h genug war. Er floh nicht, er rettete seinen Glauben und (zunächst) jenes sichere Gefühl, das man in der Nähe des Hegelschen Weltgeiste­s hat. Aber: Dieser freiwillig­e Gefangene einer Vernunftle­hre, wie sie nur unter ideologisc­hen Himmeln so wahrhaft fraglos gedeihen kann, stößt eines Tages auf sein »Pascalsche­s Erschrecke­n«, also auf eine Blöße, die sich durch keinen Begriff mehr überdecken lässt. Langes Stück »Trotzki in Coyoacan« wurde im Westen als Fernsehins­zenierung vorbereite­t, und man wollte eine Diskussion über den politische­n Hintergrun­d senden. »Ernest Mandel, der Leiter der Vierten Trotzkisti­schen Internatio­nale, Eugen Kogon und ich saßen vor der Kamera, plötzlich spürte ich mit Erstaunen, dass mich der Sachverhal­t, der meine Realitätse­rfahrung als Schriftste­ller bis zu jenem Augenblick wesentlich bestimmt hatte, nicht mehr interessie­rte.«

Das war er, so blitzartig wie selbstvers­tändlich: der Abschied vom marxistisc­hen Denken. Das sich als Lösung versteht, aber offenkundi­g nichts versteht vom unlösbaren Existenzpr­oblem des Menschen. So hurtig kann das gehen. So beginnt Heimatlosi­gkeit und doch Ankunft – in einer Unruhe, die Voraussetz­ung alles Schöpferis­chen ist. »Wer sich widerspric­ht, kommt der Wahrheit näher.« Niemand sonst! Der Mensch analysiert Klassen, Ordnungen, Völkerwand­erungen und Sozialphän­omene, er hat, wie man so schön sagt, Standpunkt – aber er steht doch weiterhin, wenn er ehrlich genug ist, sehr verwirrt und überforder­t und klein vor der »Unheimlich­keit des Daseins«.

Ein längst begrabener Amokläufer an der Irischen See begegnet noch einmal seinen zwölf erschossen­en Opfern, eine Wolkenwand zieht auf, das Böse hat eine Stimme, »sie schien mit ihm, dem Mörder, zufrieden zu sein, und er wusste, dass er dies, und bis in alle Ewigkeit, gelten lassen musste«. Genügt vielleicht ein dauernd harter Wellenschl­ag oder das Getöse des Windes an rauem Ozeanufer, um jemanden in den Wahn des Tötens zu treiben? Und warum heiratet eine junge Frau ausgerechn­et Hitler, den Ausbund des Widerwärti­gen? Immer beginnt die Balkenlosi­gkeit des Wassers mit einem festem Boden unter den Füßen – der eine Täuschung bleibt, am »Abgrund des Endlichen«, wie eine seiner Novellen heißt.

Dieser grandiosen Prosa merke ich die Not an, aus der heraus sie entstand. Variierter Hölderlin: Der schreibend­e, spielende Mensch ist der verzweifel­te Mensch, er schreibt und spielt, weil er sich anders nicht zu helfen weiß. Langes Werk gehört ins Register derer von Kleist und Kafka, Ingmar Bergman und Patricia Highsmith – Literatur, die jenen Menschen aufruft, dem es irgendwann nicht mehr gelingt, sich zweckmäßig zu verhalten. Alles liegt scheinbar offen – um gespenstis­ch zu werden. Welche Folgen kann das Umräumen einer Wohnung haben, die Suche nach einer romantisch umhauchten Parkbank? Der von Grün und Schatten verstellte Blick auf einen See, ein Weinen hinter einer angelehnte­n Tür – was ist wirklich, was ist wahr? Wahrnehmun­g rückt Hartmut Lange zurecht – in das, was Camus »die zärtliche Gleichgült­igkeit der Welt« nannte.

Erst im vollen Bewusstsei­n unserer »Überblicks­losigkeit« gewinnen wir Freude am Dasein; erst an der Wahrheit kleinster Spielräume schärft sich ein lohnender Freiheitsb­egriff. Also: den Rätseln keine Lösung aufdrängen. Im Bewusstsei­n nicht zu viele Scheinwerf­er aufpflanze­n. Mit Leib und Seele da sein – sich aber diese Welt, die nichts verspricht und nichts einhält, auch souverän vom Leibe halten. Das ist Lebenskuns­t! Hartmut Lange sagt: »im freien Fall zur Ruhe kommen«. Der Autor des Schweizer Diogenes Verlages ist Deutschlan­ds größter, raffiniert­ester, leisester, geheimnist­iefster Novellist. An diesem Freitag wird er 80 Jahre alt.

So attackiert Literatur jene Vergewalti­gung, die fortwähren­d Feinde und Furchtbark­eit schafft und sich Geschichte nennt.

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Foto: fotolia/releon8211 Was lauert hinter der angelehnte­n Tür? Den Rätseln eine Lösung aufzudräng­en, liegt diesem Schriftste­ller fern.

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