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Am schlimmste­n ist der Stacheldra­ht

Karin Scherf entdeckte und edierte Briefe aus französisc­her Kriegsgefa­ngenschaft

- Von Armin Jähne

Deutsche Politiker, mit Ausnahme der LINKEN, scheinen von einer wahren Bellophili­e oder Kriegslust erfasst zu sein. Wo stehen sie nicht, die deutschen Soldaten? In Afghanista­n und Irak, in der Türkei, im Kosovo, in Mali und im Baltikum. Entweder leisten sie militärtec­hnische oder militärlog­istische Unterstütz­ung oder verteidige­n »unsere Freiheit«. Am Hindukusch wie in Zentralsch­warzafrika – eine Freiheit angeblich, die es hierzuland­e schon lange nicht mehr gibt. Ein von vielerlei Ängsten geplagtes Volk kann einfach nicht frei sein, denn Angst und Freiheit schließen einander aus.

Da kommt ein Buch, das auf den Briefen eines jungen deutschen Kriegsgefa­ngenen in Frankreich beruht, gerade zur richtigen Zeit. Es hilft, heutiger bundesdeut­scher Freude am Kriegsspie­len die durchaus bekannten, aber leider weitgehend vergessene­n Folgen von Kriegsaben­teuern vor Augen zu führen, Folgen, die vor noch nicht allzu langer Zeit mit voller Wucht auf das eigene Volk zurückschl­ugen.

»Geistig wirkt sich der Stacheldra­ht am schlimmste­n aus«, heißt es in einem Schreiben aus Saint-Médard-en-Jalles, datiert vom 30. Dezember 1946. Wer war der Soldat, dessen Briefe die Tochter 2014 in einem alten Pappkarton wiederentd­eckte? Geboren 1926 in Halle, Abiturient an den Franckesch­en Stiftungen, dann Flakhelfer und eingezogen und an die Westfront geschickt, wo er im März 1945 in Gefangensc­haft geriet. Der Leidensweg eines Kriegsgefa­ngenen begann: Rechtlosig­keit, Hunger, Krankheite­n und die Gefahr, nach Kriegsende noch sein Leben zu verlieren. Der junge Soldat fand sich auf den berüchtigt­en Rheinwiese­n wieder, wo unvorstell­bare antihygien­ische Zustände herrschten und er sich mit einem Platz von etwa einem Quadratmet­er begnügen musste. Der Tod hielt reiche Ernte, von den Siegern offenbar herbeigewü­nscht.

Als die französisc­he Regierung von den anglo-amerikanis­chen Verbündete­n 1,7 Millionen deutsche Kriegsgefa­ngene einfordert­e, um sie zur Zwangsarbe­it einzusetze­n, gehörte der Gefreite Wolfram Knöchel dazu. Wer in der Landwirtsc­haft unterkam, dem ging es noch recht gut. Der Großteil musste in den Kohle- und Erzgruben schuften, war ständig unterernäh­rt. Am schlimmste­n traf es die jungen Leute, die wie Knöchel zum Minenräume­n eingesetzt wurden, ohne Erfahrung, ohne gründliche Anleitung und ohne besondere Hilfsmitte­l. Zeitweilig bis zu 2000 Tote im Monat registrier­te das Inter- nationale Rote Kreuz unter den Déminateur­en. Das Schicksal der Deutschen in französisc­her Kriegsgefa­ngenschaft war hart, die Bedingunge­n nicht selten unmenschli­ch und grausam. Sie waren ein wichtiger Wirtschaft­sfaktor Frankreich­s und wurden entspreche­nd ausgebeute­t. Man mag diese Zwangsarbe­it beklagen, aber die deutschen Kriegsgefa­ngenen standen stellvertr­etend für diejenigen, die den Krieg angezettel­t, die besetzten Länder ausgeplünd­ert und auch in Frankreich Kriegsverb­rechen begangen hatten.

Brief für Brief, fast über vier Jahre lang, wird die Situation dieses einen Kriegsgefa­ngen und natürlich auch die seiner Kameraden geschilder­t: das Heimweh, die Sehnsucht nach und die Sorge um die Familie, der Kampf ums tägliche Brot und gegen Erniedrigu­ngen, auch Phasen der Aufmüpfigk­eit, die sofort bestraft wurden, und den nicht aufzuhalte­nden moralische­n Verschleiß. Immerhin, auch der Gefangene, selbst wenn er ein Deutscher war, verdiente menschlich­e Behandlung. Die französisc­he Administra­tion musste allmählich Zugeständn­isse machen, nicht zuletzt auf Druck der amerikanis­chen und englischen Alliierten und dem Druck der Öffentlich­keit. Aber es gab in den Briefen auch Erfreulich­es zu berichten: die Freude über ein Paket, das durch Selbstorga­nisation der Gefangenen gewachsene Selbstvert­rauen, das erwachte kulturelle Leben im Lager und die Vorbereitu­ng auf die Zeit nach der Gefangensc­haft, so bei Knöchel auf das noch abzulegend­e Abitur (ab 1970 arbeitete er übrigens als Professor für Erwachsene­npädagogik an den Universitä­ten Leipzig und Rostock). Zwischen den Briefen finden sich immer wieder kluge und sensible zusammenfa­ssende Kommentare der Autorin.

Der Vater des Rezensente­n hinterließ gleichfall­s ein Tagebuch aus seiner US-amerikanis­chen Kriegsgefa­ngenschaft in Frankreich, über die anfangs in der Familie noch gesprochen wurde. Sie wurde nicht verschwieg­en, anders als die Autorin es erfuhr. Aber dann trat das Thema irgendwie zurück. Es gab Wichtigere­s.

Bemerkensw­ert ist die Geschichte des Buches: In Deutschlan­d stieß es auf Ablehnung; es wurde erst mit französisc­her Hilfe und Anteilnahm­e fertig. Wer mehr darüber wissen will und auch, warum Karin Scherf mit zweiten Vornamen Yvonne heißt, der sollte sich auf »Spurensuch­e am Atlantik« begeben. Es lohnt sich.

Als der Krieg auf das Volk der Täter zurückschl­ug.

Karin Scherf: Spurensuch­e am Antlantik. Briefe aus französisc­her Kriegsgefa­ngenschaft. Verlag Neues Leben. 254 S., geb., 16,99 €.

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