Vom Wort zur Tat
Der französische Historiker Johann Chapoutot zeigt, wie kurz der Weg von populistischen Versprechen zu Verbrechen ist
Wie oft ist zu hören, man sei doch kein Nazi oder gar ein Faschist. Die Behauptung kann durchaus berechtigt sein. Und niemand sollte allzu schnell und schlicht über andere urteilen. Dennoch: Wer sich so äußert, schränkt die Begriffe zumeist willkürlich ein: Um Nationalsozialismus, also die deutsche Form des europäischen Faschismus, soll es sich lediglich gehandelt haben, als die Juden ermordet wurden und ein Vernichtungskrieg stattfand. Wer jedoch solcher Definition folgt, lässt drei Dimensionen außen vor: die ideologische, die Bewegungen und Parteien sowie schließlich die Verbrechen selbst. Sind die Idee der 1920 gegründeten Nazipartei und ihres »Führers« vor dem Zweiten Weltkrieg etwa nicht als nazistisch bzw. faschistisch zu charakterisieren?
Darauf läuft hinaus, was ein Autor des »Spiegels« im Jahresrückblick auf 2016 von sich gab. Ihm ging es zwar um den neuen US-Präsidenten, der »gefährliche Dinge« gesagt, sie bislang jedoch nicht getan habe. So aber sei der Unterschied zwischen Populismus und Faschismus zu charakterisieren. Merkwürdig, denn es erlaubt zu schlussfolgern: Gefährliche Dinge zu äußern, sei allenfalls »populistisch« und berechtige nicht zu härterem Urteil. Was für ein irreführendes Denkmodell, das die Begriffe abhängig machen will von der Differenz zwischen Sagen und Handeln!
Abhilfe bietet da der vorliegende Band. Sein Autor ein französischer Historiker, der an der Pariser Sorbonne lehrt und vor drei Jahren mit einem Buch über den »Nationalsozialismus und die Antike« in Erscheinung trat. Er befasst sich nun eingehend mit der Ideen- und Ideologiegeschichte der NSDAP, mit ihren Wurzeln, vielgestaltigen Erscheinungsformen und Auswirkungen. Seiner Attacke gegen oftmals »hohle Phrasendrescherei« kann, nein: muss gefolgt werden. Texte, Bilder und Reden der Nazis sollten ernst genommen werden – Unbehagen, Spott oder Empörung allein reichen nicht, ihre Taten zu erklären.
Johann Chapoutot versucht, tief in den (Un-)Geist der Nazis einzudringen, da dieser grundlegend für deren kriminelle Gewalt gewesen sei. Er untersuchte 1200 Buch- und Zeitschriftenartikel sowie ca. 50 Filme. Ans Licht gefördert wird eine Unmenge an Aussagen, die in ihrer barbarischen Unmenschlichkeit erschüttern und zugleich einen Tiefpunkt in der Geschichte deutscher Intellektueller markieren. Sie bezeugen »drei kate- gorische Imperative«, die dem »NSProjekt seine Grundlagen geliefert« hätten. Chapoutot spricht weiter von drei Handlungsarten, die Deutschland »ewiges Leben garantieren sollten«. Für sie verwendet er die Begriffe: Zeugung, Kampf und Herrschaft.
Im völkischen Denken werde, so der Autor, von den Menschen ein Pflichtbewusstsein für die biologische Substanz des Volkes bzw. der Nation verlangt. Es gebe ein »Zeugungsgebot«: Die germanische Rasse müsse »fruchtbar sein und massenweise Kinder produzieren, insbesondere im Hinblick auf den slawischen Feind«. So könne Erhalt und Zukunft der Rasse gesichert werden, allerdings nur dann, wenn man auf deren Gesundheit und Reinheit achte und alle nicht lebensfähige Substanz beseitige. Geredet wurde daher von den Lebensgesetzen der Natur, von Rasseninstinkt und natürlicher Vererbung, vor allem vom Blut, das den Rassen jeweils wesenseigene Werte diktiere. Gegen alle zersetzenden Mächte und gegen die Gefahr einer Zersetzung, Abschaffung und »Denaturierung« des deutschen Volkes« müsse letztlich immer das Blut zu siegen befähigt werden. Dafür bedürfe es eines permanenten Kämpfens, sowohl nach innen (gegen die »Volksfremden«) als auch nach außen (»erbarmungsloses Herrenmenschentum«). An die Stelle von Gewissen trete die Konsequenz, das Ringen um eine »Endlösung«, die völlige Kompromisslosigkeit.
Ob und wie völkisch-rassistische Gedanken ihre »normative Natur« entfalten, zu Geboten für das Handeln werden und zu unmenschlichen Taten führen, hängt nach Auffassung des Autors von den gesellschaftlichen Kontexten ab, die zeitlich und ortsgebunden sind. Erst sie ermöglichen das »Herrschen« als Realisierung vorhandener Gedanken. Es gelte, gleichsam kartographisch die Gedankenwelt zu erfassen, worin die »NS-Verbrechen erst ihren Sinn und ihren Platz erhalten«. Damit sei auch zu erklären, dass nach 1945 die Täter sich für nicht schuldig hielten. Sie seien überzeugt gewesen, richtig gehandelt zu haben. In ihren Augen sei das Handeln »sinnhaltig« gewesen, weil eine »Aufgabe« – gleich ob angenehm oder unangenehm – notwendig zu erfüllen gewesen wäre.
Natürlich fragt Chapoutot auch danach, wie es zur Zustimmung großer Teile der Deutschen zu den Ideen der Nazis hatte kommen können, die nicht von jenen erfunden worden sind: »Westlicher Antisemitismus, Kolonial-Rassismus, Sozialdarwinismus, Eugenik, Imperialismus, Furcht vor und Hass auf den jüdischen Bolschewismus, Angst vor den Ostjuden, gepaart mit Verachtung – all das sind Elemente eines europäischen und westlichen Textes, dessen Auswirkungen man auch zu anderen Zeiten und an anderen Orten, beispielsweise im Frankreich der Dreyfus-Affäre, in den Kolonialreichen und in Ländern wie der Schweiz, Skandinavien und den USA mit ihrer Sozialtechnologie, studieren konnte. Dieser Text wurde freilich im Kontext des Deutschlands der 1920er Jahre verdichtet, kompakter gemacht und radikalisiert, um schließlich in den 1930er Jahren im Dritten Reich mit ungekannter Brutalität und Intensität in Taten umgesetzt zu werden.«
Es lohnt, mit dem in die Vergangenheit gerichteten Blick des Autors gegenwärtige Erscheinungen zu bewerten und ihnen energisch zu begegnen. Völkisch orientierte Denkund nationalistische Verhaltensstrukturen gehörten zu den Fundgruben der sich selbst als nationalsozialistisch bezeichnenden Ideologie. Und viele derjenigen, die damals »nur« völkisch dachten, gehörten zu den aktiven Wegbereitern der hitlerfaschistischen Diktatur und halfen, deren Verbrechen zu ermöglichen. Johann Chapoutot: Das Gesetz des Blutes. Von der NS-Weltanschauung zum Vernichtungskrieg. Wissenschaftliche Buchgemeinschaft. 475 S., geb., 39,95 €.