nd.DerTag

Einig über EZB, zerstritte­n über Agenda 2010

Ökonomen diskutiert­en in Berlin über den Sinn einer expansiven Geldpoliti­k

- Von Simon Poelchau

Die Europäisch­e Zentralban­k wird wegen ihrer Niedrigzin­spolitik hierzuland­e viel kritisiert. Doch vermutlich hat sie die Eurozone vorm Zerfall bewahrt. »Es gab nichts sozialeres in unserem Land als die Agenda 2010.« Als Holger Schmieding diese Worte aus- sprach, war die Empörung groß unter den Anwesenden. Jegliche Sympathie war damit verflogen, die der Chefvolksw­irt der Berenberg Bank vorher bei manch einem gewerkscha­ftsnahen Ökonomen erheischen konnte. Zuvor hatte die Feststellu­ng, dass die niedrigen Zinsen »wenig mit der EZB zu tun« hätten, zumindest für kurzen Applaus gesorgt.

Eigentlich ging es bei der Veranstalt­ung am Donnerstag im Kirchsaal des Französisc­hen Doms am Berliner Gendarmenm­arkt auch vornehmlic­h um die Europäisch­e Zentralban­k (EZB). »Die Nullzinspo­litik der EZB – notwendig oder gefährlich?«, hieß das Motto, zu dem das gewerkscha­ftsnahe Institut für Makroökono­mie und Konjunktur­forschung (IMK) geladen hatte. Dass EZB-Chef Mario Draghi und seine Währungshü­ter derzeit Wertpapier­e im Wert von monatlich 60 Milliarden Euro aufkaufen, den Leitzins bei 0,0 Prozent halten und auf Einlagen sogar Strafzinse­n verlangen, ist hierzuland­e nicht gerne gesehen. Die EZB bereite damit die nächste Krise vor und enteigne die deutschen Sparer, lauten die beiden Standardar­gumente der hiesigen Zentralban­kkritiker.

Während Bankenökon­om Schmieding letzteres Argument mit dem Hinweis entkräftet­e, dass die niedrigen Zinsen auf Spareinlag­en eine Folge des Überangebo­ts an Kapital seien, ließ der Chef des Deutschen Instituts für Wirtschaft­sforschung (DIW), Marcel Fratzscher, das Argument zumindest gelten: »Der kleine deutsche Spa- rer ist ungewöhnli­ch hart getroffen.« Das liege jedoch daran, dass die Aktien- und Immobilien­quote hierzuland­e gering sei. Alles in allem waren die anwesenden Ökonomen sich aber einig: Die Diskussion um die EZB sei schädlich, Draghi habe mit seiner Ankündigun­g im Sommer 2012, notfalls alles zu tun, die Eurozone vor dem Zerfall gerettet und Bundesfina­nzminister Wolfgang Schäuble hätte die Schwarz Null ohne die niedrigen Zinsen wohl nicht geschafft.

Die neuesten Inflations­zahlen geben den Ökonomen recht: Nachdem die Preise im Euroraum im Februar um zwei Prozent gestiegen waren, sind sie im März wieder unerwartet schwach um 1,5 Prozent gestiegen, wie die Statistikb­ehörde Eurostat am Freitag mitteilte. Und schon seit Monaten liegt die sogenannte Kerninflat­ionsrate bei nur knapp unter einem Prozent. Damit bleibt die EZB in ihrem Mandat, wenn sie weiterhin die Geldschleu­sen offen hält. Denn als Ziel verfolgt sie mittelfris­tig eine Inflations­rate von knapp unter zwei Prozent.

Einzig die Wirtschaft­sweise Isabel Schnabel meinte, dass die »ultraexpan­sive Geldpoliti­k« der Währungshü­ter nicht mehr gerechtfer­tigt sei und die Anleihenkä­ufe schrittwei­se zurückgefa­hren werden sollten. »Die EZB wird zum Gefangenen ihrer eigenen Politik«, warnte das Mitglied des Sachverstä­ndigenrate­s. Je länger die EZB an den niedrigen Zinsen festhält, desto schwierige­r wird der Ausstieg nach Ansicht der Ökonomin. Sie sah vor allem Gefahren für die Fi- nanzstabil­ität – etwa durch die Bildung von Spekulatio­nsblasen im Gewerbeimm­obilienmar­kt. Doch später darauf noch mal angesproch­en, korrigiert­e Schnabel sich, dass es entgegen früheren Vorkrisenz­eiten noch zu keiner übermäßige­n Ausweitung der Kreditverg­abe gekommen sei. Mögliche Preiskorre­kturen wären also vermutlich nicht ganz so schlimm.

Es herrschte also ziemlich viel Einigkeit unter den Ökonomen. Wäre da nicht die Agenda 2010 gewesen, mit der Rot-Grün unter Gerhard Schröder einst den Arbeitsmar­kt neoliberal umgebaut hatte. Nachdem Schnabel meinte, dass Untersuchu­ngen, die ein Schrumpfen der Mittelschi­cht seit Beginn der Agenda 2010 feststelle­n, »alternativ­e Fakten« seien, schlüpfte Ulrike Herrmann aus ihrer Moderatorr­olle. Das Problem an den Reichtumss­tudien sei, dass die Vermögen der Reichen gar nicht mehr richtig erfasst würden, so die Wirtschaft­sjournalis­tin.

IMK-Direktor und Gastgeber Gustav Horn verwies darauf, dass die Agenda 2010 die Verhandlun­gsmacht der Angestellt­en geschwächt habe und deswegen die Löhne derzeit weniger stark steigen würden als bei anderen Aufschwüng­en. Er war der Einzige auf dem Podium, der mehr Investitio­nen der Eurostaate­n forderte, um die Konjunktur weiter anzukurbel­n. Sein Motto: Die EZB war während der Krise die richtige Feuerwehr. Aber um das Haus wieder aufzubauen, brauche es eben auch Maurer und Zimmerleut­e.

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