nd.DerTag

Sieben Tage, sieben Nächte

- Gabriele Oertel

Von wegen, nichts sei älter als die Zeitung von gestern. Endlich ist auch für uns Journalist­en, die bislang jeden Tag einen neuen Text erfinden müssen, um die Leser bei Laune und Abonnement zu halten, ein Ausweg aus der schnöden Vergänglic­hkeit gefunden. Wir schaffen ab sofort nur noch Evergreens, die Schluss machen mit der lediglich auf ein paar Aufmerksam­keitsminut­en ausgericht­eten Verschwend­ung von Gehirnschm­alz, Technik und Geld. Mit Hilfe der Evergreen Content Strategie machen clevere Marketings­trategen schon eine Weile gute Erfahrunge­n, um eigentlich alte Inhalte neu zu verkaufen. Redakteure müssen demnach nur die einmal geschriebe­nen Texte in viele kleine Schnipsel zerlegen, updaten, aktualisie­ren und wahlweise angereiche­rt mit Fotos, Videos oder Zusatztext­en auf verschiede­nen Kanälen neu verbreiten.

Ganz abgesehen davon, dass derlei schon bis zum Erbrechen geschieht, weil einfach die meisten die Öffentlich­keit umtreibend­en Themen sowieso immer wiederkehr­en, müssen Journalist­en sich dann überhaupt nicht mehr die Wirklichke­it antun. Einfach in den Speicher gucken und schon ist er da, der neu aufgewärmt­e und ein bisschen anders angerichte­te alte Brei, an dessen Bekömmlich­keit sich nach Monaten eh keiner mehr erinnern kann.

Ganz im Vertrauen: Das Evergreen-Prinzip wird in der Politik schon lange angewendet. Oder hat jemand vom in dieser Woche tagenden Koalitions­ausschuss etwa etwas Anderes erwartet, als dass in trautester Gemeinsamk­eit von demnächst sich heftig befehdende­n Parteichef­s die seit dreieinhal­b Jahren existieren­den inhaltlich­en Unterschie­de festgestel­lt wurden? Die einen haben den anderen einen kleinen gesichtswa­hrenden Brocken hingeworfe­n, um bei den wirklich streitbare­n Themen zu mauern – und die anderen haben sich mit einem kleinen Zugeständn­is bedankt, um das Große und Ganze unangetast­et zu lassen. Der einzige Schnipsel, der dem Polittheat­er zu etwas Aufmerksam­keit verholfen hat und als neues Verkaufsar­gument herhalten musste, war die medial in Szene gesetzte zögerliche Teilnahme des neuen Akteurs Martin Schulz.

Aber bis zum Evergreen ist es ein weiter und bisweilen beschwerli­cher Weg. Das musste der 100-Prozent-Parteichef zu Wochenbegi­nn im Saarland erfahren. Zwar kann man auch seine überrasche­nden Molltöne noch zweit-, dritt- und viertverwe­rten – bei der Wahl in Schleswig-Holstein, in Nordrhein-Westfalen und erst recht im Herbst beim ganz großen Festival des politische­n Liedes. Ob die frohen Gesänge auf den Vorkämpfer für soziale Gerechtigk­eit dann allerdings noch von vielen geträllert werden, gilt nicht als ausgemacht. Vielleicht bleibt von Schulz dann nur noch eines der von Journalist­en so gut zu verkaufend­en historisch­en Schnipsel.

Newspapers in German

Newspapers from Germany