Sieben Tage, sieben Nächte
Von wegen, nichts sei älter als die Zeitung von gestern. Endlich ist auch für uns Journalisten, die bislang jeden Tag einen neuen Text erfinden müssen, um die Leser bei Laune und Abonnement zu halten, ein Ausweg aus der schnöden Vergänglichkeit gefunden. Wir schaffen ab sofort nur noch Evergreens, die Schluss machen mit der lediglich auf ein paar Aufmerksamkeitsminuten ausgerichteten Verschwendung von Gehirnschmalz, Technik und Geld. Mit Hilfe der Evergreen Content Strategie machen clevere Marketingstrategen schon eine Weile gute Erfahrungen, um eigentlich alte Inhalte neu zu verkaufen. Redakteure müssen demnach nur die einmal geschriebenen Texte in viele kleine Schnipsel zerlegen, updaten, aktualisieren und wahlweise angereichert mit Fotos, Videos oder Zusatztexten auf verschiedenen Kanälen neu verbreiten.
Ganz abgesehen davon, dass derlei schon bis zum Erbrechen geschieht, weil einfach die meisten die Öffentlichkeit umtreibenden Themen sowieso immer wiederkehren, müssen Journalisten sich dann überhaupt nicht mehr die Wirklichkeit antun. Einfach in den Speicher gucken und schon ist er da, der neu aufgewärmte und ein bisschen anders angerichtete alte Brei, an dessen Bekömmlichkeit sich nach Monaten eh keiner mehr erinnern kann.
Ganz im Vertrauen: Das Evergreen-Prinzip wird in der Politik schon lange angewendet. Oder hat jemand vom in dieser Woche tagenden Koalitionsausschuss etwa etwas Anderes erwartet, als dass in trautester Gemeinsamkeit von demnächst sich heftig befehdenden Parteichefs die seit dreieinhalb Jahren existierenden inhaltlichen Unterschiede festgestellt wurden? Die einen haben den anderen einen kleinen gesichtswahrenden Brocken hingeworfen, um bei den wirklich streitbaren Themen zu mauern – und die anderen haben sich mit einem kleinen Zugeständnis bedankt, um das Große und Ganze unangetastet zu lassen. Der einzige Schnipsel, der dem Polittheater zu etwas Aufmerksamkeit verholfen hat und als neues Verkaufsargument herhalten musste, war die medial in Szene gesetzte zögerliche Teilnahme des neuen Akteurs Martin Schulz.
Aber bis zum Evergreen ist es ein weiter und bisweilen beschwerlicher Weg. Das musste der 100-Prozent-Parteichef zu Wochenbeginn im Saarland erfahren. Zwar kann man auch seine überraschenden Molltöne noch zweit-, dritt- und viertverwerten – bei der Wahl in Schleswig-Holstein, in Nordrhein-Westfalen und erst recht im Herbst beim ganz großen Festival des politischen Liedes. Ob die frohen Gesänge auf den Vorkämpfer für soziale Gerechtigkeit dann allerdings noch von vielen geträllert werden, gilt nicht als ausgemacht. Vielleicht bleibt von Schulz dann nur noch eines der von Journalisten so gut zu verkaufenden historischen Schnipsel.