Eine kleine Opferette
Vor fünf Jahren erschien Günter Grass’ Gedicht »Was gesagt werden muss«. Wer es vergessen will, sollte sich erinnern.
Im Sommer 1995 wurde Günter Grass eines elend langen Verrisses teilhaftig. Tatort war der »Spiegel«, Ziel sein Roman »Ein weites Feld«. Neben Fragen literarischer Qualität und der Vermutung, dass amateurpolitische Ambitionen dem Dichten eher hinderlich seien, ging es auch um die Situation der Juden vor und nach der neudeutschen Reichseinheit. Die Polemik könnte als Zeugnis des üblichen Kampfes zwischen verschiedenen Formen des platten Unfugs ignoriert werden, hieße ihr Autor nicht Marcel Reich-Ranicki und wäre sie nicht das impulsivste Ereignis in der berühmten Streitgeschichte zwischen dem jüdischen Kritiker und dem deutschen Autor. Reich-Ranicki zeigt sich nicht zimperlich, und zwischen all seinen Fehlleistungen dort trifft das meiste, was er über Grass schreibt, empfindlich ins Zentrum dieses sensiblen Autors. Einen Titel hatte die Rezension übrigens auch: »… und es muss gesagt werden«.
Ist es wirklich so einfach? Ist Grassens auffällig ähnlich benanntes, 17 Jahre später erschienenes Gedicht »Was gesagt werden muss«, das die Schwierigkeit eines Deutschen zur Sprache bringt, öffentlich gegen Israel und Juden zu sprechen, das zudem ein weiteres und jüngstes Beispiel jener erwähnten Neigung zur Amateurpolitik ist, der Grass seit Beginn der 60er Jahre bruchlos nachgab, bloß auf diese abgeschmackte Art persönlich motiviert? Liegt in ihm also der Versuch vor, Israel für die nicht nachlassende lebenslange Kränkung durch einen jüdischen Kritiker bluten zu lassen?
Es wäre gewiss vulgär, Dichter und ihr Treiben allein auf Persönliches herunterzustutzen. Was derart auffällig jedoch vom Dichter in Szene gesetzt wird, darf als Hinweis durch ihn selbst verstanden werden. Dichtung ist der Ort, wo Subjekt und Objekt organisch werden, wo die Untrennbarkeit von Urteil und Sentiment, von Weltdingen und Persönlichkeit nicht bloß unvermeidlich, sondern regelrecht Tugend ist. Man kann nachtragend sein wie Charlie Meadows und trotzdem meinen, was man sagt. Und ohne Bedenken können wir das lyrische Subjekt mit dem Dichter gleichsetzen, denn zweifellos spricht ER hier selbst und will von dir, mir und dir dafür bestaunt sein.
Für seine Kühnheit natürlich, verlästert und nützlich zugleich, und mehr ist da dann auch nicht. Augenfällig die Eitelkeit, mit der er sich behandelt, als setze ihn der bloße Besitz einer Meinung ins Recht, den Mitmenschen Zeit zu stehlen. »Was gesagt werden muss« könnte treffender »Ich wollte nur mal sagen« heißen. Weder in dem, was er sagt, noch darin, wie er es sagt, liegt irgendein Mehrwert. Es könnte ja gemeingefährlich sein und dennoch pfiffig; neben Ressentiment und Bosheit auch Treffendes und Tiefes enthalten. Allein, Grass bleibt Grass und hätte vertrackte Schönheit wie die »Bekennt- nisse eines Unpolitischen« oder die »Reflections on the Revolution in France« nie hervorbringen können.
Über die Form des Gedichts lässt sich noch weniger sagen, einfach weil es keine hat. Stilistisch steht Grass hier, wie immer, im die Poesie konstituierenden Widerspruch von Kraft und Eleganz so weit von letzterer, wie es irgend geht. Doch auch die Kraft ist bei ihm bloß Kraftmeierei, sein Stil eigentlich Manier, seine Unfähigkeit zur formalen Bewältigung so deutlich, wie einst von Robert Gernhardt in der Polemik gegen das Grasssche »Sonett« festgehalten. Desgleichen der Wortbestand: »Machtbereich«, »Beweiskraft«, »Spezialität«, »Zulieferer«, »Tatbestand«, »Wiedergutmachung«, »nukleares Potential« oder, nun wirklich von keiner Karikatur mehr zu übertreffen: »eine unbehinderte und permanente Kontrolle / des israelischen atomaren Potentials / und der iranischen Atomanlagen / durch eine internationale Instanz / von den Regierungen beider Länder«. Diese Politprosa, mit der selbst ein Prakti- kant bei der Deutschen Presseagentur wenig Aussicht auf längere Beschäftigung hätte, wird ganz dem Urteil gerecht, das Peter Hacks einst über Grassens Brecht-Denunziation gab, nämlich dass ihr etwa so viel Poesie innewohne wie dem Godesberger Programm.
Allein das Bild von der »letzten Tinte« sowie die geschickte heterologische Konstruktion, darüber zu reden, dass man nicht redet, worüber man gerade redet, ließen sich mit Vorsicht als Eigenheiten angeben, die mehr als bloß (in des Wortes doppelter Bedeutung) gemein sind. Reich-Ranicki schreibt, Grassens Hang zum Politisieren habe ihn mehr und mehr am Dichten gehindert; wahrscheinlicher ist, umgekehrt, dass Grass früh seine Unfähigkeit zur Poesie und organisierten Erzählung bemerkt hat und ihn diese Ahnung immer mehr ins Politisieren trieb. In diesem Sinne, doch bloß in diesem, erweist sich »Was gesagt werden muss« als organische Einheit eines Inhalts mit einer Form. Es ist so wenig gefertigt, so wenig geschrieben, dass man den Eindruck hat, man wohne einem morgendlichen Diktat zwischen zwei Stuhlgängen bei.
So fasse man das Gedicht als das, was es ist: eine prosaische Mitteilung zum politischen Gebrauch. Drei Jahre vor dem Tod seines Urhebers entstanden, gleicht es dem Trojanischen Pferd. Es ist ein Abschiedsgeschenk, der Welt hinterlassen, um über das biologische Dasein seines Schöpfers hinaus Unfrieden zu stiften. Es hat drei Ausdehnungen, handelt von der Rede, der Welt und der Zukunft. Um die sichtbar zu machen, muss man sie strenger auseinanderstellen, als das Gedicht es tut, wenn es unablässig zwischen diesen Themen hin- und herspringt.
Grass redet nicht einfach über das Thema. Sein Thema ist das Reden über das Thema. Es geht also um Israel und um das Reden über Israel. Zunächst fällt am Titel auf, dass der Autor sich damit von seiner eigenen Rede distanziert. Es soll nicht, es muss gesagt werden. So gibt er die Verantwortung ab für das, was natürlich gar nicht gesagt werden muss, sondern vielmehr er höchstselbst unbedingt sagen will. Schon hier, im Titel, bereitet Grass sich auf die Rolle des zu Unrecht Verfolgten vor, die er eigentlich erst im Nachspiel der Veröffentlichung spielen muss.
Einigermaßen geschickt ist, dass die Rede in Form der Nichtrede erscheint, als Schweigen. Die so entstehende Paradoxie eines ausgesprochenen Schweigens (»Warum schweige ich«) lässt aufmerken und die Beklemmung fühlen, in der der Autor sich fühlt. Zugleich spricht er vom Verschweigen, was schon mehr ist. Der eigentlich Unbeteiligte wird zum Geheimnisträger, sein Schweigen zur Tat. Dass er es nun bricht, damit zum Akt von Zivilcourage. Man ahnt sogleich, noch in den ersten Zeilen, dass dieser Komplex um Schweigen und Schuld die eigentliche Botschaft des Gedichtes ist. Wie aufgeladen und geschraubt dieser Zugriff ist, wird deutlich, wo es heißt, er untersage sich, jenes Land, um das es geht, beim Namen zu nennen. Zu einem Zeitpunkt im Gedicht, an dem jeder längst weiß, worum es geht, dehnt der Dichter das Schweigegebot, das er allein sich auferlegt hat, und dadurch soll der Eindruck entstehen, sein Bruch des Schweigens sei ungeheuerlich. Ohne dass der Name »Israel« fällt, wird er bereits herausgeschrien im Ohr des Hörers, der die Lücke des Nichtgenannten sonder Mühe schließt.
Alle diese Manöver, von der Wahl des Titels bis zum Komplex des Schweigens, schaffen den Eindruck außerordentlicher Unfreiheit, den der in Ressentiments geübte Leser sogleich in Schuldzuweisung gen Israel und zionistische Lobbygruppen überführen soll. Das Gedicht erweckt den Eindruck, als müsse nun endlich einmal ohne Umweg gesagt werden, was gesagt werden muss. Bei aller Schlichtheit jedoch ist es textstrategisch gewieft und hochtoxisch. Es geht nicht um das, was gesagt werden muss, sondern darum, dass gesagt werden muss, was gesagt werden muss. Das angezeigte Vorhaben, endlich frei zu reden, wird durch die umständliche Redeweise sogleich wieder in einen Zusammenhang der Beklemmung und Unterdrücktheit befördert, obschon gar kein Redeverbot vorliegt. Was vorliegt, das ist eine Erwartung, nämlich, dass auf eine Rede eine andere folgen werde. Und deren Inhalt kennt der Redende genau, weil ihm der toxische Gehalt seiner Rede durchaus bewusst ist, also etwa: Warum wage ich nicht zu sa-
Augenfällig ist die Eitelkeit, mit der Günter Grass sich behandelt, als setze ihn der bloße Besitz einer Meinung ins Recht, den Mitmenschen Zeit zu stehlen.