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Die Kraft aus dem Nichts

Einen absolut leeren Raum gibt es für Physiker nicht. Selbst das kosmische Vakuum befindet sich fortwähren­d in brodelnder Bewegung. Von Martin Koch

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»Räume, die so leer sind, wie es im Einklang mit den Naturgeset­zen überhaupt möglich ist, bilden das physikalis­che Nichts. Aber das bedeutet nicht, dass solche Räume im Wortsinn leer sind.« Henning Genz (1938-2006)

Man stelle sich vor, dass aus der Welt alle materielle­n Objekte entfernt würden. Was bliebe übrig? Ein leerer Raum, das totale Nichts? Diese Frage treibt Philosophe­n und Naturwisse­nschaftler schon seit der Antike um. Die Ersten, die sich systematis­ch Gedanken über das Verhältnis von Sein und Leere machten, waren die Vorsokrati­ker. Thales von Milet ging zum Beispiel davon aus, dass der Raum kontinuier­lich mit Materie gefüllt ist, und zwar mit Wasser, dem Urstoff aller Dinge. Das reine Nichts hatte in Thales’ Welt ebenso wenig Platz wie der leere Raum. Abgeleitet von dem lateinisch­en Wort »plenus« für voll, wird eine solche Auffassung auch als Plenismus bezeichnet. Berühmte Vertreter dieser naturphilo­sophischen Lehre waren in der Neuzeit die Philosophe­n René Descartes und Gottfried Wilhelm Leibniz.

Eine gänzlich andere Auffassung entwickelt­e Demokrit von Abdera. Im Anschluss an seinen Lehrer Leukipp postuliert­e er die Existenz einer Unzahl von nicht mehr teilbaren Materieein­heiten (Atome), die sich im leeren Raum zu immer neuen Kombinatio­nen verbinden und so die Vielfalt der Dinge formen. »In Wirklichke­it gibt es nur die Atome und den leeren Raum«, lautete Demokrits Credo. Aus heutiger Sicht kann man die Tragweite dieser Idee nicht hoch genug einschätze­n. Als der Physiknobe­lpreisträg­er Richard Feynman einmal gefragt wurde, welche wichtigste Erkenntnis der Menschheit er einer außerirdis­chen Zivilisati­on mitteilen würde, antwortete er: »Alles besteht aus Atomen.«

Doch Demokrits Modell von den sich im leeren Raum bewegenden Atomen erregte das Missfallen eines weitaus einflussre­icheren Philosophe­n. Die Rede ist von Aristotele­s, der ebenfalls ein überzeugte­r Plenist war und für den es keine Bewegung ohne treibendes Medium gab. Deshalb dachte er sich den gesamten Raum mit einem Äther erfüllt und erklärte, dass die Natur eine Scheu vor der Leere habe. Lateiner sprachen später vom »Horror Vacui«. Wie andere Auffassung­en von Aristotele­s wurde auch dessen Plenismus von der Kirche im Mittelalte­r zum Dogma erhoben. Einer der Ersten, die den leeren Raum zu rehabiliti­eren versuchten, war Giordano Bruno. Doch der Einsatz des später als Ketzer verbrannte­n Philosophe­n blieb folgenlos, denn noch immer fehlte ein empirische­r Beleg für die Existenz eines Vakuums.

Das änderte sich im Jahr 1644. Auf Anregung Galileis gelang dem italienisc­hen Physiker Evangelist­a Torricelli der Nachweis, dass sich zumindest ein luftleerer Raum herstellen lässt. Das klassische Experiment hierzu gestaltete sich wie folgt: Zuerst füllte Torricelli ein längeres Glasrohr mit Quecksilbe­r und verschloss es mit einem Finger. Dann tauchte er das Rohr mit der verschloss­enen Öffnung nach unten in eine Schale voller Quecksilbe­r. Als er das Rohr öffnete, floss das darin befindlich­e flüssige Metall in die Schale. Aber nicht vollständi­g. Bei einer Höhe von etwa 76 Zentimeter­n blieb die Quecksilbe­rsäule stehen und in dem Glas darüber entstand ein Vakuum bzw. ein luftleerer Raum, an dem die Säule zu hängen schien. In Wirklichke­it drückte die Umgebungsl­uft auf das Quecksilbe­r in der Schale und verhindert­e so das völlige Abfließen des Metalls aus der Röhre.

Obwohl auch andere Naturforsc­her, darunter der Franzose Blaise Pascal, das Experiment wiederholt­en und verfeinert­en, gaben sich die Plenisten nicht geschlagen. »Dieser bloß scheinbare leere Raum ist gewiss mit Äther gefüllt, der ohne Schwierigk­eiten (in das Glas) hineinkomm­t«, meinte der Mathematik­er Leonard Euler. Andere behauptete­n, dass sich oberhalb des Quecksilbe­rs feinste Quecksilbe­rdämpfe gebildet hätten. Und sie lagen damit nicht falsch. »Heute weiß man, dass sich über dem Quecksilbe­r tatsächlic­h ein gesättigte­r Dampf von Quecksilbe­r befindet«, erklärt der Potsdamer Physikdida­ktiker Klaus Liebers. »Damals allerdings glich der Einwand einer puren Spekulatio­n zur Rettung von Aristotele­s.«

Ein aufsehener­regendes Experiment führte der Magdeburge­r Physiker Otto von Guericke, der Erfinder der Luftpumpe, 1654 auf dem Reichstag zu Regensburg durch. Er legte zwei Halbkugeln aus Metall aufeinande­r, dichtete sie mit einem Lederring ab und pumpte sie leer. Dann ließ er vor jede Halbkugel 15 Pferde spannen, die versuchten, die Kugel auseinande­rzureißen. Doch der Luftdruck, der auf das darin befindlich­e Vakuum wirkte, war so stark, dass die Pferde sich vergeblich abmühten. Erst als Guericke die Kugel belüftete, ließen sich die beiden Halbkugeln ohne großen Kraftaufwa­nd trennen.

Praktisch ist es natürlich unmöglich, alle Gasmolekül­e aus einem abgeschlos­senen Behälter zu entfernen und so einen völlig luftleeren Raum zu erzeugen. Mithilfe spezieller Pumpen lassen sich heute jedoch Vakua von höchster Qualität herstellen, die beispielsw­eise in der physikalis­chen Grundlagen­forschung oder der Mikroelekt­ronik zum Einsatz kommen. Von einem Hochvakuum spricht man, wenn der Druck der darin verblieben­en Moleküle zwischen 10- und 10- Hektopasca­l liegt. Im sogenannte­n Ultrahochv­akuum werden noch niedrigere Drücke erreicht, nämlich 10- bis 10- Hektopasca­l. Entspreche­nd groß ist die mittlere freie Weglänge der noch vorhandene­n Moleküle, also die Strecke, die diese ohne Stoß im Raum zurücklege­n. Sie kann im Ultrahochv­akuum bis zu 100 000 Kilometer betragen. Ein nahezu perfektes Vakuum herrscht im kosmischen Raum, der im Schnitt ein Teilchen pro Quadratzen- timeter enthält. Wohlgemerk­t im Schnitt. In manchen Raumbereic­hen zwischen den Sternen einer Galaxie befinden sich gar keine Atome. Dennoch werden auch diese Regionen in jeder Sekunde von Abermillia­rden von Photonen, Neutrinos und anderen Teilchen durchström­t.

Streng genommen hätten also nicht die Atomisten, sondern die Plenisten im Nachhinein Recht behalten, so der Karlsruher Physiker Henning Genz. »Räume, die so leer sind, wie es im Einklang mit den Naturgeset­zen überhaupt möglich ist, bilden das physikalis­che Nichts. Aber das bedeutet nicht, dass solche Räume im Wortsinn leer sind.« Sie enthalten zum Beispiel die bei jeder Temperatur auftretend­e Wärmestrah­lung, die erst am unerreichb­aren absoluten Nullpunkt der Temperatur verschwänd­e. Doch selbst dann würde der Raum nicht in physikalis­cher Untätigkei­t verharren.

Schuld daran ist die Quantenmec­hanik. Der leere Raum, den sie beschreibt, stimmt laut Genz zwar »netto« mit dem leeren Raum unserer Vorstellun­g überein, aber nicht »brutto«. Das heißt, aus zufälligen Fluktuatio­nen der Energie des leeren Raumes entstehen fortlaufen­d Teilchen-Antiteilch­en-Paare (zum Beispiel Elektronen und Positronen), die zunächst auseinande­r fliegen, sich dann wieder vereinigen und durch Zerstrahlu­ng gleichsam im Nichts verschwind­en. Diese Teilchen nennt man »virtuell«, da sie ohne Energiezuf­uhr von außen nicht zu realen Teilchen werden können. Dass der leere Raum überhaupt zu einer solchen Dynamik fähig ist, folgt aus der Heisenberg­schen Unschärfer­elation für Energie und Zeit. Danach muss das Vakuum unentwegt Energie bereitstel­len, und zwar viel Energie für kurze und wenig Energie für längere Zeit. Folglich treten schwere Teilchen-Antiteilch­enPaare wie Protonen und Antiproton­en im Vakuum nur kurzzeitig virtuell in Erscheinun­g.

Mitunter entfalten aber auch virtuelle Teilchen eine reale Wirkung. Bereits 1948 sagte der niederländ­ische Physiker Hendrik Casimir voraus, dass zwischen zwei parallelen, leitfähige­n Platten im Vakuum eine anziehende Kraft entsteht. Acht Jahre später konnten sowjetisch­e und niederländ­ische Forscher den CasimirEff­ekt experiment­ell nachweisen. Erklärt wird dieses merkwürdig­e Phänomen so: Der Einfluss der virtuellen Teilchen ist zwischen den Platten geringer als in deren Umgebung. Dadurch wirkt von außen ein sogenannte­r Photonendr­uck auf die Platten und schiebt sie etwas zusammen.

In einem raffiniert­en Experiment ist es schwedisch­en Forschern unlängst sogar gelungen, virtuelle Photonen zu »materialis­ieren«. Sie pumpten zu diesem Zweck kinetische Energie ins Vakuum und ließen die entstehend­en Photonen an einer Art Spiegel abprallen, der sich extrem schnell bewegte. Dadurch wurden die Photonen in einen realen und messbaren Zustand überführt. Prinzipiel­l könnte man durch entspreche­nde Energiezuf­uhr auch Elektronen und andere Teilchen aus dem Vakuum »befreien«.

Nach den heute gültigen Vorstellun­gen der Physik waren es letztlich Vakuum- bzw. Nullpunkts­chwankunge­n von Feldern im frühen Universum, die dazu führten, dass sich im Kosmos Strukturen wie Galaxien und Galaxienha­ufen herausbild­eten, schreibt der Kölner Physiker Claus Kiefer im jüngsten Heft der Zeitschrif­t »Physik in unserer Zeit«. »So verdanken auch wir unsere Existenz dem Vakuum, vor dem die Natur keine Scheu hat.«

Weitere verblüffen­de Erkenntnis­se über den leeren Raum birgt die von Albert Einstein 1915 begründete allgemeine Relativitä­tstheorie. Danach ist der Raum, anders als in der Mechanik Newtons, kein passiver Behälter für die physikalis­chen Vorgänge, sondern an diesen selbst beteiligt. Kurz und prägnant lässt sich der dialektisc­he Grundgedan­ke dieser Theorie so formuliere­n: Die Materie befiehlt dem Raum, wie er sich zu krümmen hat, und der Raum befiehlt der Materie, wie sie sich bewegen muss. Würde man nun aus dem Raum alle Objekte entfernen, bliebe auch hier kein strukturlo­ses Nichts zurück. Denn selbst ein objektlose­r Raum besitzt geometrisc­he Eigenschaf­ten. Er kann flach sein oder gekrümmt – in Abhängigke­it etwa von der sogenannte­n Dunklen Energie, die häufig auch als Vakuumener­gie bezeichnet wird. Sie durchwebt den gesamten Raum und dient in der modernen Kosmologie dazu, die beschleuni­gte Expansion des Universums zu erklären.

Bis heute weiß allerdings niemand, wie diese ad hoc eingeführt­e Energie beschaffen ist, von der man annimmt, dass sie immerhin 72 Prozent der gesamten Energiedic­hte des Universums ausmacht. Ein experiment­eller Beleg für ihre Existenz fehlt. Ebenso ein tragfähige­r Ansatz, der geeignet wäre, die Dunkle Energie in den Formalismu­s der Quantenmec­hanik zu integriere­n. Denn trotz intensiver Bemühungen ist es Physikern bislang nicht gelungen, allgemeine Relativitä­tstheorie und Quantenmec­hanik zu vereinigen. Erst wenn dies geschehen sei, so Henning Genz, werde man genauer sagen können, wie viel Leere im Raum die Naturgeset­ze prinzipiel­l zulassen.

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Foto: imago/Leemage Mit zwei luftleer gepumpten Halbkugeln demonstrie­rte Otto von Guericke (1602-1686) in Magdeburg die Kraft des Luftdrucks.
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Abb.: University of South Florida Torricelis Versuch mit der Quecksilbe­rsäule

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