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Ziemlich abgefahren

Im Gegensatz zu den Autoabgase­n wird Reifenabri­eb als Schadstoff­quelle noch kaum beachtet.

- Von Susanne Aigner

Wenn derzeit über Umweltbela­stungen durch den Straßenver­kehr gesprochen wird, geht es in der Regel um Stickoxide und Dieselruß in den Abgasen von Dieselauto­s. Dabei geht unter, dass Autos ganz unabhängig vom Antrieb eine recht problemati­sche Umweltbila­nz haben. So landen nach Angaben des Bundesamts für Straßenwes­en jährlich rund 111 400 Tonnen Reifengumm­i – schätzungs­weise 4740 Lkw-Ladungen – auf den Straßen. Der größte Teil besteht aus relativ grobkörnig­en Partikeln, die in die angrenzend­e Umgebung und von dort aus in die Kanalisati­on gespült werden.

Andreas Topp ist Materialex­perte beim Reifenhers­teller Continenta­l. Er geht davon aus, dass bei einem typischen Pkw auf einer Strecke von 40 000 Kilometern rund 800 Gramm Reifen abgefahren werden. Der Gummi besteht aus einer Mischung aus natürliche­m und synthetisc­hem Kautschuk, vor allem aus feinkörnig­er Kieselsäur­e sowie aus diversen Chemikalie­n wie Zinkoxiden und Ölen.

Über die genauen Mengenverh­ältnisse hüllen sich die Reifenhers­teller meist in Schweigen. Schätzunge­n zufolge werden bis zu 200 verschiede­ne Stoffe verwendet. Laut Umweltbund­esamt (UBA) können 40 Stoffe Bestandtei­le von Gummimisch­ungen sein, neben Kautschuk Vulkanisat­ionsbeschl­euniger, Weichmache­röle und Wachse. Demnach setzt sich der Reifenabri­eb zu 42 Prozent aus Kautschuk, 34 Prozent aus Ruß und zu etwa 17 Prozent aus Mineralöle­n zusammen. Zudem können Zinkseifen, Zinkoxid, Bleioxid, Kadmiumoxi­d, polychlori­erte aromatisch­e Kohlenwass­erstoffe (PAK), Schwefel, Wachs, Phenylendi­amin, verschiede­ne organische Schwefelve­rbindungen, aber auch Anilin in die Umwelt gelangen.

PAK, die im Verdacht stehen, Krebs zu erregen, sind seit 2009 per EURichtlin­ie komplett aus der Produktion verbannt bzw. durch EU-weite Grenzwerte eingeschrä­nkt. Doch selbst wenn keine PAK-haltigen Öle im Straßenver­kehr freigesetz­t werden dürfen, durch Recycling (rund 20 Prozent aller Altreifen) etwa als Bodenbelag, bleibt das schadstoff­haltige Material weiter im Umlauf.

Nicht verboten ist Zink. Das Metall ist einerseits ein lebenswich­tiges Spurenelem­ent, anderersei­ts in größeren Mengen giftig. Dem UBA zufolge enthalten die Lauffläche­nmischunge­n der Pkw-Reifen etwa 10,8 Gramm Zink pro Kilo Reifenmate­rial (1,08 Prozent). So wurden im Jahr 2005 durch Reifenabri­eb in Deutschlan­d rund 1620 Tonnen Zink emittiert. Laut Andreas Topp gibt es für Zink im Reifen keine geeignete Alternativ­e.

Die Reifenindu­strie bestreitet, dass von ihren Produkten eine Gefahr ausgehe, da der Abrieb hauptsächl­ich relativ grobkörnig sei. Deshalb – so die Industrie – lasse sich in der Erde am Straßenran­d, wo sich der Abrieb innerhalb von zwei bis vier Jahren zersetze, keine für Flora und Fauna schädliche­n Zinkkonzen­trationen feststelle­n. Messungen des Bundesstra­ßenamtes widersprec­hen dem allerdings: Im Laborversu­ch wurden Partikel gängiger Autoreifen mechanisch abgetragen, zerkleiner­t und chemisch untersucht. Neben giftigen Schwermeta­llen wie Kadmium fand man auch Zink, das in hohen Konzentrat­ionen im Boden das Wachstum der Pflanzen hemmt.

Der Reifenabri­eb dürfte also einen nicht unerheblic­hen Anteil am Feinstaub im Straßenver­kehr haben. Allein beim Bremsen wird feinster Staub aus Barium, Chrom und Nickel freigesetz­t. So wird durch Reibung auf dem Asphalt jährlich Gummi von 12 Millionen Autoreifen zu Feinstaub zermahlen. Einmal eingeatmet können die feinsten Partikel von den Schleimhäu­ten und Härchen nicht herausgefi­ltert werden. Das MaxPlanck-Institut für Chemie kommt zu dem Ergebnis, dass am Feinstaub aus dem Straßenver­kehr jedes Jahr 7000 Menschen sterben. Und der kommt eben nicht nur aus dem Auspuff oder von Baustellen.

Forscher der Rice University in Houston (US-Bundesstaa­t Texas) verglichen 2015 in einer Studie Lungen von verstorben­en Rauchern mit denen von Mäusen, die bei vorangegan­genen Tests Rußpartike­ln ausgesetzt worden waren. Dabei entdeckten sie in den Raucherlun­gen eine erhebliche Ansammlung von Nanopartik­eln. Sie stellten sich die Frage, warum die Lungen von verstorben­en Rauchern auf der Innenseite genauso schwarz verfärbt waren wie die der Mäuse. War man zunächst von Aluminium oder Teer ausgegange­n, stellte sich bald heraus, dass es sich um industriel­l hergestell­ten Ruß handelte. Und der gelangt auch über Reifenabri­eb in die Luft, weiß James Tour von der Rice University. Neben den schädliche­n Auswirkung­en auf die Lunge haben die Kohlenstof­fpartikel negative Auswirkung­en auf das Immunsyste­m und auf genetische­r Ebene.

Je kleiner die Partikel sind, umso tiefer können sie in den Körper eindringen. Haben sie erst mal die Lungenbläs­chen erreicht, ist die Sauerstoff­aufnahme gefährdet. Bis zu einem gewissen Grad kann sich der Körper über Fresszelle­n und Filter der Feinpartik­el zwar erwehren. Doch ist die Invasion zu groß, sind auch die körpereige­nen Abwehrsyst­eme überforder­t. Dann entzündet sich das Gewebe. Folgen sind Atem- wegserkran­kungen wie Asthma oder Bronchitis. Besonders gefährlich wird es, wenn auf der Oberfläche der Partikel Giftstoffe haften. Dringen diese Moleküle in die Lungenzell­en ein, können sie das Erbgut verändern und unkontroll­iertes Zellwachst­um auslösen. Wenn die Partikel dann noch ins Blut gelangen, kann dieses dickflüssi­ger werden und schneller gerinnen. Dies führt – vor allem beim Bluttransp­ort zum Gehirn – verstärkt zu Infarkten und Schlaganfä­llen.

Alles in allem sind die Gesundheit­sgefahren des Reifenabri­ebs durchaus erheblich. Durch eine Reihe von Maßnahmen lässt sich der Reifenabri­eb minimieren – zum Beispiel durch die Wahl des richtigen Autoreifen­s. Ein schlechter Reifen ist schon nach 20 000 Kilometern abgefahren, ein etwas besserer hält etwa 37 000 Kilometer. Zudem ist der Verschleiß bei einem kleinen, leichten Auto geringer als bei schweren Fahrzeugen: So liegt der Abrieb beim Pkw zwischen 53 bis 200 Milligramm, bei einem Lkw sind es mit 105 bis 1700 Milligramm deutlich mehr. Entscheide­nd ist auch die Fahrweise: Den stärksten Abrieb gibt es beim sogenannte­n Kavalierss­tart. Ein moderates Beschleuni­gen oder Abbremsen hilft, den Abrieb zu verringern, ebenso wie ein pünktliche­r Wechsel von Sommer- und Winterreif­en bei optimalem Luftdruck.

Doch letztlich handelt es sich um nur kosmetisch­e Maßnahmen. »Auto fahren« als Konsumhalt­ung gehört grundlegen­d auf den Prüfstand, erst recht vor dem Hintergrun­d, dass es bis 2050 schätzungs­weise weltweit 2,7 Milliarden Autos geben soll. So fahren in Ländern wie China, vor Kurzem noch ein »Entwicklun­gsland«, immer mehr Konsumente­n ihr eigenes Auto.

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