Ziemlich abgefahren
Im Gegensatz zu den Autoabgasen wird Reifenabrieb als Schadstoffquelle noch kaum beachtet.
Wenn derzeit über Umweltbelastungen durch den Straßenverkehr gesprochen wird, geht es in der Regel um Stickoxide und Dieselruß in den Abgasen von Dieselautos. Dabei geht unter, dass Autos ganz unabhängig vom Antrieb eine recht problematische Umweltbilanz haben. So landen nach Angaben des Bundesamts für Straßenwesen jährlich rund 111 400 Tonnen Reifengummi – schätzungsweise 4740 Lkw-Ladungen – auf den Straßen. Der größte Teil besteht aus relativ grobkörnigen Partikeln, die in die angrenzende Umgebung und von dort aus in die Kanalisation gespült werden.
Andreas Topp ist Materialexperte beim Reifenhersteller Continental. Er geht davon aus, dass bei einem typischen Pkw auf einer Strecke von 40 000 Kilometern rund 800 Gramm Reifen abgefahren werden. Der Gummi besteht aus einer Mischung aus natürlichem und synthetischem Kautschuk, vor allem aus feinkörniger Kieselsäure sowie aus diversen Chemikalien wie Zinkoxiden und Ölen.
Über die genauen Mengenverhältnisse hüllen sich die Reifenhersteller meist in Schweigen. Schätzungen zufolge werden bis zu 200 verschiedene Stoffe verwendet. Laut Umweltbundesamt (UBA) können 40 Stoffe Bestandteile von Gummimischungen sein, neben Kautschuk Vulkanisationsbeschleuniger, Weichmacheröle und Wachse. Demnach setzt sich der Reifenabrieb zu 42 Prozent aus Kautschuk, 34 Prozent aus Ruß und zu etwa 17 Prozent aus Mineralölen zusammen. Zudem können Zinkseifen, Zinkoxid, Bleioxid, Kadmiumoxid, polychlorierte aromatische Kohlenwasserstoffe (PAK), Schwefel, Wachs, Phenylendiamin, verschiedene organische Schwefelverbindungen, aber auch Anilin in die Umwelt gelangen.
PAK, die im Verdacht stehen, Krebs zu erregen, sind seit 2009 per EURichtlinie komplett aus der Produktion verbannt bzw. durch EU-weite Grenzwerte eingeschränkt. Doch selbst wenn keine PAK-haltigen Öle im Straßenverkehr freigesetzt werden dürfen, durch Recycling (rund 20 Prozent aller Altreifen) etwa als Bodenbelag, bleibt das schadstoffhaltige Material weiter im Umlauf.
Nicht verboten ist Zink. Das Metall ist einerseits ein lebenswichtiges Spurenelement, andererseits in größeren Mengen giftig. Dem UBA zufolge enthalten die Laufflächenmischungen der Pkw-Reifen etwa 10,8 Gramm Zink pro Kilo Reifenmaterial (1,08 Prozent). So wurden im Jahr 2005 durch Reifenabrieb in Deutschland rund 1620 Tonnen Zink emittiert. Laut Andreas Topp gibt es für Zink im Reifen keine geeignete Alternative.
Die Reifenindustrie bestreitet, dass von ihren Produkten eine Gefahr ausgehe, da der Abrieb hauptsächlich relativ grobkörnig sei. Deshalb – so die Industrie – lasse sich in der Erde am Straßenrand, wo sich der Abrieb innerhalb von zwei bis vier Jahren zersetze, keine für Flora und Fauna schädlichen Zinkkonzentrationen feststellen. Messungen des Bundesstraßenamtes widersprechen dem allerdings: Im Laborversuch wurden Partikel gängiger Autoreifen mechanisch abgetragen, zerkleinert und chemisch untersucht. Neben giftigen Schwermetallen wie Kadmium fand man auch Zink, das in hohen Konzentrationen im Boden das Wachstum der Pflanzen hemmt.
Der Reifenabrieb dürfte also einen nicht unerheblichen Anteil am Feinstaub im Straßenverkehr haben. Allein beim Bremsen wird feinster Staub aus Barium, Chrom und Nickel freigesetzt. So wird durch Reibung auf dem Asphalt jährlich Gummi von 12 Millionen Autoreifen zu Feinstaub zermahlen. Einmal eingeatmet können die feinsten Partikel von den Schleimhäuten und Härchen nicht herausgefiltert werden. Das MaxPlanck-Institut für Chemie kommt zu dem Ergebnis, dass am Feinstaub aus dem Straßenverkehr jedes Jahr 7000 Menschen sterben. Und der kommt eben nicht nur aus dem Auspuff oder von Baustellen.
Forscher der Rice University in Houston (US-Bundesstaat Texas) verglichen 2015 in einer Studie Lungen von verstorbenen Rauchern mit denen von Mäusen, die bei vorangegangenen Tests Rußpartikeln ausgesetzt worden waren. Dabei entdeckten sie in den Raucherlungen eine erhebliche Ansammlung von Nanopartikeln. Sie stellten sich die Frage, warum die Lungen von verstorbenen Rauchern auf der Innenseite genauso schwarz verfärbt waren wie die der Mäuse. War man zunächst von Aluminium oder Teer ausgegangen, stellte sich bald heraus, dass es sich um industriell hergestellten Ruß handelte. Und der gelangt auch über Reifenabrieb in die Luft, weiß James Tour von der Rice University. Neben den schädlichen Auswirkungen auf die Lunge haben die Kohlenstoffpartikel negative Auswirkungen auf das Immunsystem und auf genetischer Ebene.
Je kleiner die Partikel sind, umso tiefer können sie in den Körper eindringen. Haben sie erst mal die Lungenbläschen erreicht, ist die Sauerstoffaufnahme gefährdet. Bis zu einem gewissen Grad kann sich der Körper über Fresszellen und Filter der Feinpartikel zwar erwehren. Doch ist die Invasion zu groß, sind auch die körpereigenen Abwehrsysteme überfordert. Dann entzündet sich das Gewebe. Folgen sind Atem- wegserkrankungen wie Asthma oder Bronchitis. Besonders gefährlich wird es, wenn auf der Oberfläche der Partikel Giftstoffe haften. Dringen diese Moleküle in die Lungenzellen ein, können sie das Erbgut verändern und unkontrolliertes Zellwachstum auslösen. Wenn die Partikel dann noch ins Blut gelangen, kann dieses dickflüssiger werden und schneller gerinnen. Dies führt – vor allem beim Bluttransport zum Gehirn – verstärkt zu Infarkten und Schlaganfällen.
Alles in allem sind die Gesundheitsgefahren des Reifenabriebs durchaus erheblich. Durch eine Reihe von Maßnahmen lässt sich der Reifenabrieb minimieren – zum Beispiel durch die Wahl des richtigen Autoreifens. Ein schlechter Reifen ist schon nach 20 000 Kilometern abgefahren, ein etwas besserer hält etwa 37 000 Kilometer. Zudem ist der Verschleiß bei einem kleinen, leichten Auto geringer als bei schweren Fahrzeugen: So liegt der Abrieb beim Pkw zwischen 53 bis 200 Milligramm, bei einem Lkw sind es mit 105 bis 1700 Milligramm deutlich mehr. Entscheidend ist auch die Fahrweise: Den stärksten Abrieb gibt es beim sogenannten Kavaliersstart. Ein moderates Beschleunigen oder Abbremsen hilft, den Abrieb zu verringern, ebenso wie ein pünktlicher Wechsel von Sommer- und Winterreifen bei optimalem Luftdruck.
Doch letztlich handelt es sich um nur kosmetische Maßnahmen. »Auto fahren« als Konsumhaltung gehört grundlegend auf den Prüfstand, erst recht vor dem Hintergrund, dass es bis 2050 schätzungsweise weltweit 2,7 Milliarden Autos geben soll. So fahren in Ländern wie China, vor Kurzem noch ein »Entwicklungsland«, immer mehr Konsumenten ihr eigenes Auto.