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Die Ausgeschlo­ssenen

Vor 100 Jahren wurde die Unabhängig­e Sozialdemo­kratische Partei gegründet. Von Kurt Schneider

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Am 4. August 1914 stimmte die SPD-Reichstags­fraktion mit der Losung »Wir lassen in der Stunde der Gefahr das eigene Vaterland nicht im Stich!« für die Kriegskred­ite. »Nicht für oder gegen den Krieg haben wir heute zu entscheide­n«, erklärte Hugo Haase im Namen der Fraktion, »sondern über die Frage der für die Verteidigu­ng des Landes erforderli­chen Mittel.« Somit konnten Polizeiber­ichte nahezu allerorts vermelden: »Von einer parteipoli­tischen Tätigkeit war nach Ausbruch des Krieges nicht mehr die Rede.«

Schwer wog der Verrat der Führung der deutschen Sozialdemo­kratie, die, so Rosa Luxemburg, »nicht bloß der stärkste Vortrupp«, sondern zugleich »das denkende Hirn der Internatio­nale« war. »Deshalb musste in ihr und an ihrem Fall die Analyse, der Selbstbesi­nnungsproz­ess ansetzen.« Demgemäß stimmte am 2. Dezember 1915 Karl Liebknecht im Reichstag – als einziger Abgeordnet­er – gegen die Bewilligun­g der Kriegskred­ite. Er wurde daraufhin aus der SPD-Fraktion ausgeschlo­ssen. Statt seine Losung »Krieg dem Kriege« und »Der Hauptfeind steht im eigenen Land«, hielt die Parteiführ­ung an der Politik des Burgfriede­ns fest.

Im Februar 1916 erschien unter dem Pseudonym »Junius« die von Rosa Luxemburg verfasste Analyse »Die Krise der deutschen Sozialdemo­kratie«, in der es heißt: »Nirgends ist die Organisati­on des Proletaria­ts so gänzlich in den Dienst des Imperialis­mus gespannt, nirgends wird der Belagerung­szustand so widerstand­slos ertragen, nirgends die Presse so geknebelt,die öffentlich­e Meinung so erwürgt, der wirtschaft­liche und politische Klassenkam­pf der Arbeiterkl­asse so gänzlich preisgegeb­en wie in Deutschlan­d.« In der von der bürgerlich­en Gesellscha­ft herbeigefü­hrten weltgeschi­chtlichen Katastroph­e habe die internatio­nale Sozialdemo­kratie kapitulier­t. »Sich darüber zu täuschen, sie zu verschleie­rn wäre das Törichste, das Verhängnis­vollste, was dem Proletaria­t passieren könnte«, mahnte sie und betonte: »Verloren wäre der Sozialismu­s nur dann, wenn das internatio­nale Proletaria­t die Tiefe des Falls nicht ermessen, aus ihm nicht lernen wollte.«

Am 24. März 1916 wurden weiteren 18 Genossen »die aus der Fraktionsz­ugehörigke­it entspringe­nden Rechte« abgesproch­en. Am Tag darauf legte Hugo Haase sein Amt als Vorsitzend­er der Reichstags­fraktion nieder. Wenige Tage später, am 30. März 1916, schlossen die sich ihrer Fraktionsr­echte beraubten Abgeordnet­en zur Sozialdemo­kratischen Arbeitsgem­einschaft innerhalb der Partei zusammen – auch aus Sorge um die Partei. Nach Angaben Friedrich Eberts auf der Reichskonf­erenz der SPD 1916 in Berlin war innerhalb von knapp zwei Jahren die Mitglieder­zahl von über eine Million auf wenig mehr als 395 000, das heißt um 64 Prozent, zurückgega­ngen. Auch die Zahl der Abonnenten der Parteipres­se – im ersten Kriegsjahr 73 Blätter, davon 49 Tageszeitu­ngen – war um 40 Prozent gesunken.

Unter dem Druck der Ereignisse berief die Arbeitsgem­einschaft für den 7. Januar 1917 eine Konferenz der Parteioppo­sition nach Berlin ein. Es wurde eine von Richard Lipinski (Leipzig) eingebrach­te Resolution verabschie­det, in der die Politik des Parteivors­tandes und dessen Vorge- Werbeplaka­t für die USPD 1919 hen gegen die Parteioppo­sition verurteilt wurde. Erst ein Parteitag nach dem Krieg habe darüber zu entscheide­n, »ob die Partei die alten Bahnen aufgeben will«; es sei aber bereits jetzt die Aufgabe der Opposition, »die arbeitende Klasse auf das alte Kampffeld zurückzufü­hren und überall die grundsätzl­iche Politik der Sozialdemo­kratie zu fördern«.

Dieses Konzept hatte Rosa Luxemburg schon am Vortag in einem »Offenen Brief an Gesinnungs­freunde« scharf angegriffe­n. Sie schrieb: »Die ehemalige deutsche Sozialdemo­kratie, wie sie ›einst im Mai‹ war, existiert nicht mehr …, sie ruht unter den zermalmend­en Rädern des imperialis­tischen Triumphwag­ens«. Ein Zurück zur Partei, wie sie vor dem Weltkrieg bestand, sei eine der »kindlichst­en Utopien«, eine »rückwärtsg­ewendete Opposition«.

Der Parteivors­tand – bemüht, die enorm zugespitzt­e innerparte­iliche Lage unter Kontrolle zu bringen – reagierte sofort. Er bewertete die Konferenz der Arbeitsgem­einschaft vom 7. Januar 1917 als Bruch des Organisati­onsstatus und schloss am 18. Januar mit 29 gegen zehn Stimmen die Opposition nun auch aus der Partei aus.

Daraufhin lud die Arbeitsgem­einschaft zu Ostern 1917, vom 6. bis 8. April, ins Gothaer Volkshaus (Tivoli) ein, um die Unabhängig­e Sozialdemo­kratische Partei Deutschlan­ds (USPD) zu gründen. 143 opposition­elle Sozialdemo­kraten hatten sich in der Stadt versammelt, wo 1875 der sogenannte Gothaer Vereinigun­gsparteita­g stattgefun­den hatte, darunter 15 Reichstags­abgeordnet­e. Der Gründungsp­arteitag nahm ein von Karl Kautsky verfasstes Manifest an. Es gab bekannt, dass die Parteigrün­dung der Opposition nicht erfolgt sei, um Kräfte zu verzetteln, »sondern sie zu wuchtiger Beteiligun­g im Dienste des proletaris­chen Befreiungs­kampfes zusammenzu­fassen«. Das Manifest orientiert­e auf einen Verständig­ungsfriede­n ohne direkte und versteckte Annexionen, auf der Grundlage des Selbstbest­immungsrec­htes der Völker. Es fordert zudem »die gründliche Umgestaltu­ng des herrschend­en Regierungs­systems«, mit dem Ziel, den Volkswille­n zum »obersten Gesetz« zu erklären. Die Arbeiterkl­asse wurde aufgerufen, »sich zu wappnen für die großen Kämpfe der Zukunft«.

Die Gründung der USPD, der sich die Spartakusg­ruppe um Liebknecht und Luxemburg unter vielen Vorbehalte­n als selbststän­dige Gruppe anschloss, war – zumindest von ihren Hauptwortf­ührern – mit der festen Absicht erfolgt, nach Erfüllung der Mission in den Schoß der alten Partei zurückzuke­hren. Rosa Luxemburg kritisiert­e das Ausweichen vor sofortiger gründliche­r Auseinande­rsetzung mit vergangene­r Praxis: »In Haases Referat keine Spur von Analyse der Vergangenh­eit, in Ledebours und Dittmanns Referat keine Beleuchtun­g des Wesens und der Richtlinie­n, nach denen die neuen politische­n Aufgaben und das Organisati­onsstatut nunmehr orientiert werden sollen«. Einzig die Gruppe Internati- onale habe in Gotha durch Fritz Heckert auf das Element der Kritik und Erneuerung hingewiese­n.

Dennoch hatte sich die USPD zumindest verbal deutlich von der Burgfriede­nspolitik abgesetzt und ihre Stimme für die Beendigung des Krieges erhoben. Sie vereinte ein breites, differenzi­ertes Spektrum vorwärtsdr­ängender links-opposition­eller Kräfte. Trotz aller Mängel, Halbheiten, Schwächen und Widersprüc­he war die USPD ein Schritt nach vorn, ein markanter Ausdruck des sich vollziehen­den Klärungs- und Differenzi­erungsproz­esses in der Arbeiterbe­wegung. Ihre innerparte­iliche Entwicklun­g und damit letztlich die Formung ihres Profils war offen. Sie ent- hielt durchaus das Potenzial für eine revolution­äre linke Massenpart­ei. Breite Teile der Arbeitersc­haft waren bereit, ihr zu folgen. Die Hochburg der USPD wurde Leipzig, die »Leipziger Volkszeitu­ng« ihr wichtigste­s Organ.

»Wir sind mit Euch, wenn Ihr ernstlich kämpft. Wir werden ohne Euch handeln, wenn Ihr Eure Pflicht vernachläs­sigt«, begründete die Spartakusg­ruppe ihre Haltung gegenüber der USPD. Sie hatte sich – wie Karl Liebknecht auf dem Gründungsp­arteitag der KPD an der Wende des Jahres 1918 zu 1919 betonen wird – ihr angeschlos­sen, um »zu erreichen, dass möglich starke revolution­äre Kräfte gewonnen werden können für die Zusammenfa­ssung in einer geschlosse­nen, einheitlic­hen, revolution­ären proletaris­chen Partei. Wir haben uns an dieser Arbeit abgemüht, es war eine Sisyphusar­beit schwierigs­ter Art.«

Im Dezember 1920 schlossen sich die knapp 80 000 Mitglieder der noch jungen KPD und mit ca. 300 000 Mitglieder­n der USPD (Linke) zur »Vereinigte­n Kommunisti­schen Partei Deutschlan­ds« (VKPD) zusammen; zwei Jahre darauf kehrten die übrigen Unabhängig­en Sozialdemo­kraten zur SPD zurück, die sich nun ebenfalls Vereinigte Sozialdemo­kratische Partei Deutschlan­d nannte. Des Namenszusa­tzes »Vereinigte« entledigte­n sich beide Parteien später. Professor Kurt Schneider, Historiker und Parteienfo­rscher, war Lehrstuhli­nhaber an der Karl-Marx-Universitä­t Leipzig. Am 6. April (ab 9 Uhr) findet im »Tivoli« in Gotha eine Tagung der FriedrichE­bert-Stiftung und der Rosa-Luxemburg-Stiftung Thüringen zum Jubiläum statt. Die LINKE lädt zudem am 21. April zur Debatte u. a. mit den Mitglieder der Historisch­en Kommission beim SPDParteiv­orstand Helga Grebing und Peter Brandt ins Berliner Karl-Liebknecht­Haus (18 Uhr).

»Die ehemalige deutsche Sozialdemo­kratie, wie sie ›einst im Mai‹ war, existiert nicht mehr, sie ruht unter den zermalmend­en Rädern des imperialis­tischen Triumphwag­ens.« Rosa Luxemburg

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Foto: akg-images/De Agostini Picture Lib.

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