Blut und Knochen
Die Performancekünstlerin Marina Abramovic blickt auf ihr Leben und ihr Werk zurück
Marina Abramović ritzt sich für die Kunst mit einem Messer den Bauch auf oder schrubbt Knochen. Jetzt ist ihr eine Retrospektive gewidmet.
Jeder menschliche Körper stammt aus einer Gesellschaft und teilt deren Geschichte. Die Einsicht mag nicht allen Anatomen einleuchten, aber für Marxisten sollte sie zum dialektischen Einmaleins gehören. Wem sie zu theoretisch ist, dessen Phantasie hilft die Körperkunst oder Body-Art auf die Sprünge, deren bekannteste Vertreterin Marina Abramović ist. Zwar kommt ihre Retrospektive erst nächstes Jahr zu uns, doch ist ihr ein aufschlussreicher Katalog vorausgeeilt.
Jeder Körper hat Gesellschaft und Geschichte: Das wird deutlich, vergleicht einer die exzessiven Körperaktionen des Otto Muehl mit den präzisen, an Exerzitien gemahnenden Performances von Abramović. Muehl und seine Akteure wälzten sich in Schlamm, Blut und Scheiße. Seine Aktionen sprengten den »Körperpanzer«, wie das bei Wilhelm Reich heißt. Sie waren weit entfernt von den fast gleichzeitig stattfindenden, heiteren Orgien der Hippies. Muehl hatte den Weltkrieg überlebt, sich der Wehrmacht und ihren Schrecken unterworfen, und es war eben der eingeschnürte, abgerichtete, faschistische Körper, den er überwinden wollte, seine Grenzüberschreitungen sind deshalb weniger dionysisch als therapeutisch.
Bei Abramović geht es, auch wenn sie mit Hermann Nitsch, einem Weggefährten Muehls, zusammengearbeitet hat, nicht um Grenzüberschreitung, sondern um Grenzbewahrung, um eine Selbstbehauptung unter extremen Umständen. Sie selbst spricht von »Disziplin«. Ihre Körpererfahrung gründet im jugoslawischen Partisanenkampf, an dem Vater und Mutter teilgenommen hatten. Die Tochter lehrten sie nicht Zärtlichkeit, sondern Widerstandskraft. Eine Weile malte die junge Künstlerin (und nicht schlecht) Zusammenstöße von Lkw. Ein Freund der Eltern, Filo Filipović, Künstler und selbst einst Partisan, eröffnete ihr eine andere Kunst, legte eine Leinwand auf den Boden, schüttete Pigmente, Sand und Benzin darüber, zündete das Ganze an und sagte: »Das ist ein Sonnenuntergang.«
Diese Art von flammender, sich selbst verzehrender Kunst ging aus den existenziellen Erfahrungen des Partisanenkampfes, aus seinen Körpern, aus seinem Widerstand unmittelbar hervor, hatte aber selbst im relativ liberalen Titoismus keine Chance auf Beachtung. Mitte der 1970erJahre verließ Abramović Jugoslawien und nahm das Land und seinen Körper doch überallhin mit. Dafür sensibilisiert im Katalog ein Essay der Historikerin Bojana Pejić. Sie schreibt, es habe durchaus auch unter Tito schon Körperkunst gegeben: »Pioniere, Kinder, Soldaten wurden zu Massenornamenten arrangiert, oft in Form eines roten Sterns oder als Landkarte Jugoslawiens.« Solche patriotische Beschaulichkeit konnte Abramović kaum genügen, und doch begleitete sie der rote Stern durch ihr halbes Leben.
Bei »Rhythmus 5« von 1974 legt sie sich in einen riesigen, aus brennenden Holzspänen gebildeten Stern, wird ohnmächtig und erst in letzter Sekunde vom Publikum vor dem Ver- brennen gerettet. Ein Jahr später ritzt sie sich während der Aktion »Thomas’ Lippen« den roten Stern, mit der obersten Spitze nach unten, in den Bauch. Selbstverständlich deuteten die bürgerlichen Kunstkritiker solche Selbstgefährdung und -verletzung als Reaktion auf die Unterjochung des Individuums im sozialistischen Jugoslawien. Ihre Deutung ist spätestens mit den zur Zeit des Jugoslawienkriegs und danach entstandenen Werken widerlegt, in denen Abramović den Zerfall der Sozialistischen Föderation betrauert.
Einen besseren Begriff für das, was hier geschieht, findet Pejić in ihrem Essay. Abramović greife in einer »melodramatischen Imagination« Symbole wie den Stern, aber auch Lieder, Devotionalien, Dokumente aus dem titoistischen Jugoslawien auf, um sich einer Vergangenheit zu stellen und sie inmitten einer feindlichen Gegenwart zu überwinden. In diesem Melodram erscheint – so könnte man Pejićs Gedanken fortspinnen – ein gesellschaftliches Imaginäres, das die Künstlerin jedoch einem Publikum vermittelt, welches mit ganz anderen Imaginationen vergesellschaftet worden ist. Der Widerspruch verleiht diesen Performances ihre Spannung. Die Künstlerin vermittelt das Eigene als Fremdes, und wer in diesen oft aufwühlenden Momenten das Fremde erträgt, lernt auch das Eigene als Fremdes kennen. Auf diese Rückwirkungen kommt es der Künstlerin an, die sagt, das Publikum sei der »wichtigste Bestandteil« ihrer Kunst.
Ein besonders eindrückliches Beispiel für ihre Art, die Vergangenheit aufleuchten und verbrennen zu lassen, ist »Balkan Baroque« aus dem Jahr 1997, als sich in Jugoslawien die Leichenberge türmten. Die Künstlerin schrubbt tausend frische Rinderknochen und singt dabei Volkslieder aus ihrer Kindheit. In diesen Stunden ist sie tatsächlich »The Cleaner«, wie die Ausstellung heißt, die Frau, die reinigt, aber auch eine moderne Antigone, die die Toten bestattet.
Nicht immer sind sie so düster, doch etwas Bitteres, Böses haben ihre Performances von jeher gehabt. In »Rollentausch« von 1975 bittet sie eine Amsterdamer Prostituierte, ihre Rolle in der Galerie einzunehmen, und vertritt sie während dieser Zeit im Bordell. Die Nähe von Kunst und Prostitution, die schon Charles Baudelaire aufgefallen ist, hat Abramović also fast 30 Jahre vor Andrea Fraser thematisiert. Bei einer ihrer stärksten, weil simpelsten Aktionen aus demselben Jahr, kämmt sie sich das Haar mit einer Metallbürste, bis die Kopfhaut blutet. Dabei ruft sie fortwährend: »Kunst muss schön sein, (die) Künstlerin muss schön sein!«
»Kommunistischer Körper / Faschistischer Körper« heißt eine Performance aus dem Jahr 1979. Abramović und ihr langjähriger Partner Ulay schlafen und sind von typischen Requisiten aus dem Westen und dem Osten umgeben, die ihnen wie Attribute zuzuordnen sind; Ulay ist 1943 in Solingen geboren. Auffällig sind ihrer beider Geburtsurkunden, die ihre ist mit dem Stern, die seine mit dem Hakenkreuz versehen. Gibt es also kommunistische oder faschistische Körper? An den unbewegten Körpern selbst sind die Unterschiede nicht zu erkennen. Und wie sollten auch eine Frau, die als Erwachsene ganz anderen Einflüssen ausgesetzt war, oder ein Mann, der den Nationalsozialismus gar nicht mehr bewusst erlebt hat, kommunistische oder faschistische Körper haben? Und doch sind uns die Bilder, Gefühle, Vorstellungen unserer Geschichte und Gesellschaft in Fleisch und Blut übergegangen und bestimmen unser Denken und Handeln.
Diese den Körper innervierenden Imaginationen zu untersuchen und zu bearbeiten, ist eine politische Arbeit, die nur gemeinsam getan werden kann und bei der der Künstler Mittler ist. Auch wenn Abramović heute von manchen mit einem Guru verwechselt wird, hat sie, trotz mancher spiritueller Anwandlungen, nie etwas anderes sein wollen als solch eine Mittlerin. Marina Abramović: The Cleaner. Hatje Cantz Verlag. 270 S., geb., 39,80 €. Bei dem Buch handelt es sich um den deutschsprachigen Katalog der gleichnamigen Ausstellung, die noch bis zum 21. Mai im Moderna Museet in Stockholm zu sehen ist.
Bei Abramović geht es nicht um Grenzüberschreitung, sondern um Grenzbewahrung.