Rauchig wirkende Augen
Blake Crouchs Science-Fiction-Trivialroman »Dark Matter«
Man stelle sich vor, das uns bekannte Universum wäre nur eines unter vielen. Es wäre nur der winzige Teil eines gigantischen Multiversums. Tatsächlich gäbe es also nicht nur diese Welt, die hiesige, uns bekannte, in der, infolge bestimmter Zufälle, Donald Trump gerade amtierender US-Präsident ist und in der wir demnächst an die Erledigung unserer Steuerklärung denken müssen, sondern es gäbe – direkt daneben sozusagen, aber für uns unsichtbar – auch ein unserem zum Verwechseln ähnlich sehendes Universum, in dem jetzt gerade ein ausnahmslos alles zu Klump schlagender Atomkrieg stattfindet. Oder ein drittes, in dem wir nie gezeugt wurden, weil unser Eltern sich nie kennengelernt haben. Oder ein viertes, in dem ich und Sie schon lange verstorben sind, weil das Penicillin nie erfunden wurde. Oder ein fünftes, hundertstes oder tausendstes. Ja, es gäbe tausende und abertausende Paralleluniversen, alle wären sie einander ähnlich, und doch unterschieden sich alle auch bis in die Details hinein voneinander. Wir wüssten nur nicht das Geringste von der Existenz all dieser Universen. Woher denn auch? Sind Sie etwa Quantenphysiker?
Der US-amerikanische Schriftsteller Blake Crouch hat nun aus dieser zugegeben nicht gerade taufrischen Idee einen kurzweiligen Science-Fiction-Trivialroman gemacht, einen sprachlich hübsch anspruchslosen und rasant erzählten 400-Seiten-Pageturner: Der glücklich mit Ehefrau und Sohn irgendwo in der Provinz lebende College-Physikdozent Jason Dessen wird eines Abends nach einem Besuch in seiner Stammkneipe von einem Unbekannten entführt und erwacht wieder in einer Welt, die, obwohl sie seiner täuschend ähnelt, nicht die seine ist: Er findet sich unter wenig vertrauenerweckend wirkenden Menschen in einem gewaltigen Labor wieder, aus dem er schließlich zu fliehen versucht, um sein altes Leben, aus dem er unversehens gerissen wurde, wieder zurückzubekommen. Doch was Jason Dessen nicht weiß, ist: In der ihm vertrauten Welt, seinem Zuhause, hat derweil schon ein anderer seinen Platz eingenommen.
Zum wiederholten Mal wird hier also die Geschichte des zu Unrecht von finsteren Gesellen verschleppten bzw. gejagten Unschuldigen erzählt, der sich plötzlich als Spielball unbekannter Mächte wiederfindet und der, dabei durch mehrere Paralleluniversen taumelnd, auf eigene Faust herausfinden muss, was da eigentlich mit ihm gespielt wird.
An Parallelweltgeschichten, Identitätstausch-Thrillern und vergleichbarer Science-Fiction-Ware herrscht bekanntermaßen kein Mangel, doch in diesem Fall kann man sich die turbulente Geschichte des von gefährlichen Unbekannten verfolgten AllAmerican-Guys, der alles daran setzt, den bösen Schergen zu entkommen und zu Frau und Kind zurückzufinden, also mit Tränen der Rührung in den Augen in den Schoß der All-American-Family zurückzukehren, bei der Lektüre sehr gut als einen von Steven Spielberg gemachten Actionthriller vorstellen. Und tatsächlich sind die Filmrechte an diesem Stoff auch schon seit Jahren an einen großen Konzern verkauft. Doch auf jede gute Nachricht folgt wie immer eine schlechte: Als Regisseur ist zurzeit, wie man liest, der Spitzenlangweiler unter den Hollywoodregisseuren, Roland Emmerich, im Gespräch, was einen zu der Vermutung berechtigt, dass der fertige Film am Ende nur aus einer öden Aneinanderreihung von Explosionen und peinlichen Dialogen bestehen wird.
Doch, wie so oft bei Unterhaltungs- bzw. Spannungsliteratur dieser Art, hapert es auch im Roman selbst an der Sprache, die viel will und wenig kann: »Ich fühle, wie sich der Wahnsinn erneut meiner bemächtigt, er droht damit, mich in die Haltung eines Embryos zu versetzen und in tausend Stücke zerspringen zu lassen.« Hmm. Der Wahnsinn droht womit genau? Und wie hat man sich das vor- zustellen, wenn einer gleichzeitig in eine Haltung versetzt wird und in tausend Stücke zerspringt? Egal. Lassen wir’s gut sein. Das holprige Deutsch mag eine Folge der Übersetzung sein, an der die Verlage in aller Regel sparen, weil man in deren Geschäftsführung traditionell der Meinung ist, dass es scheißegal ist, ob der Wind nun »bläst« oder »weht«. Dem Verlag scheint obendrein auch wurscht zu sein, dass der Roman im Deutschen den Untertitel »Der Zeitenläufer« verpasst bekommen hat, obwohl hier keine einzige Figur auch nur ein einziges Mal durch die Zeiten läuft oder Vergleichbares tut. Vielmehr navigieren die Protagonisten durch verschiedene explizit gleichzeitig existierende Parallelwelten. Aber egal. Entscheidend ist doch am Ende, dass der Leser bei seiner Lektüre die ihm aus ca. 10 000 ähnlichen Büchern bekannten Textbausteine zuverlässig wiederfindet: »Ich schaue ihr in die Augen, die im Licht, das durch das Fenster fällt, rauchig wirken und funkeln. Augen, in die man fallen und immer weiter fallen kann.«
Man stelle sich vor, das uns bekannte Universum wäre nur eines unter vielen. Es wäre nur der winzige Teil eines gigantischen Multiversums.
Blake Crouch: Dark Matter – Der Zeitenläufer. Goldmann, 411 S., br., 16 €.