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Aus dem Leitz-Ordner in den »Arbeiterro­man«

Zu Besuch bei Gerhard Henschel, dem Autor der Martin-Schlosser-Romane.

- Von Guido Speckmann

Autor Gerhard Henschel ist akribische­r Archivar seines eigenen Lebens. »nd« besichtigt­e das Material für die Lebenschro­nik seines Alter Ego.

Nacht für Nacht im Keller eines Einfamilie­nhauses in einer niedersäch­sischen Kleinstadt südlich von Lüneburg: Der Schriftste­ller Gerhard Henschel legt Leonard Cohen oder William Byrd auf, setzt sich an seinen Schreibtis­ch und fängt an zu schreiben. »Nach drei bis vier Stunden habe ich anderthalb Buchseiten fertig, nach anderthalb Jahren einen weiteren Roman«, erzählt Henschel. Seine Romanchron­ik sucht in der Literaturg­eschichte ihresgleic­hen. Anhand des Lebens seines Protagonis­ten Martin Schlosser – Henschels Alter Ego – entfaltet der 1962 Geborene eine Chronik der Bundesrepu­blik Deutschlan­d. Soeben ist der siebte Teil seines autobiogra­fischen Mammutproj­ektes erschienen. Er trägt den Titel »Arbeiterro­man« – und beginnt so:

»In meinem Arbeitszim­mer konnte ich um halb fünf Uhr morgens mein Spiegelbil­d betrachten: Martin Schlosser, 25, Studienabb­recher, Möchtegern­schriftste­ller, wohnhaft in Oldenburg, Nadorster Straße 157. Niemand kennt ihn. Zurzeit muss er seinen Unterhalt noch als Hilfskraft in der Spedition Rhenus verdienen, doch er schreibt an seinem ersten Buch, schon seit anderthalb Jahren, und bald wird es fertig sein ...«

Und es geht weiter mit Selbstzwei­feln:

»Was sollte werden, wenn ich mich getäuscht hatte? In mir selbst? ›Martin, wird der nicht nächstes Jahr fünfzig? Soweit ich weiß, krebst der noch immer als Hilfsarbei­ter rum. Feilt wahrschein­lich jede Nacht an dem Opus Magnum, das er für seine Schublade schreibt ...‹«

Knapp 30 Jahre später empfängt Gerhard Henschel Journalist­en in seinem Haus in Klein Bünstorf, einer Eingemeind­ung des knapp 10 000 Einwohner zählenden Städtchens Bad Bevensen. Martin Schlosser alias Gerhard Henschel hat es also geschafft: Sein Opus Magnum ist inzwischen auf 4000 Seiten angewachse­n, erscheint im renommiert­en Hamburger Hoffmann & Campe Verlag und wird positiv rezensiert.

Sein Haus befindet sich in einem Neubaugebi­et ohne Straßennam­en, außerhalb von Bad Bevensen. Henschel hat hier schon einmal in einem ehemaligen Bauernhaus gewohnt. Nach wenigen Jahren in Brandenbur­g ist er vor knapp zwei Jahren zusammen mit seiner Frau und seinen drei Kindern wieder hierhin gezogen. Ein Grund: Das neue Haus in Bad Bevensen bietet einen geräumigen Keller. Und den braucht es. In ihm muss das Martin-Schlosser-Archiv seinen Platz finden.

Denn Henschel ist ein leidenscha­ftlicher Archivar seines eigenen Lebens. In Hunderten von durchnumme­rierten Leitz-Ordnern hat er die schriftlic­hen Spuren seines Lebens und das seiner Familie abgelegt. Täglich kommen Unterlagen hinzu. »Ich drucke E-Mails aus und archiviere sie. Papier ist das sicherste Speicherme­dium«, sagt er. Auch Bibliothek­szettel, Rechnungen, die Schulhefte seiner Kinder oder den schriftlic­hen Nachlass von verstorben­en Familienmi­tgliedern archiviert er hier. In dem Archiv befinden sich auch die Liebestage­bücher einer Schwester Henschels, Kinderzeic­hnungen, Fotoalben und – der Lieblingso­rdner – eine Sammlung von Beipackzet­teln der Medikament­e seiner Mutter. Und vor allem befindet sich hier der Briefwechs­el seiner Eltern. Aus diesem komponiert­e Henschel den Briefroman »Die Liebenden«, der 2002 erschien und die Kritiker begeistert­e. Der Schriftste­ller Stephan Wackwitz urteilte über dieses Werk des bis dato als Satiriker und Sachbuchau­tor bekannten Henschel: »Eines der rührendste­n, artistisch­sten und intelligen­testen Bücher, die ich seit Langem gelesen habe.« Und die »Neue Zürcher Zeitung« schrieb: Die Liebesgesc­hichte von Ingeborg und Richard Schlosser »entwerfe aus den banalen Gegebenhei­ten der Alltagssit­uation ein dichtes Bild der gesellscha­ftlichen Entwicklun­gen in Deutschlan­d von 1940 bis 1993.« Es ist die traurige Geschichte einer Ehe der Kriegsgene­ration und des Wirtschaft­swunders in der Bundesrepu­blik. Man hofft auf bessere Zeiten, schiebt Bedürfniss­e auf – so lange, bis man materiell alles hat, aber die Liebe zwischen Einmachglä­sern, Windeln und Hypotheken erkaltet ist.

Der Briefroman ist auch der erste Roman von Henschel, in dem Martin Schlosser, das dritte Kind von Ingeborg und Richard, die Bühne betritt. Die Idee dazu hatte Henschel allerdings schon vorher: »1996 las ich zum x-ten Mal ›Tadellöser und Wolff‹ von Walter Kempowski, und ich dachte mir, so etwas könne ich doch auch für meine Generation schreiben«, erzählt er.

Kempowskis wohl bekanntest­es Werk ist Teil der neunbändig­en »Deutschen Chronik«, in der der 2007 verstorben­e Autor anhand seiner Familie autobiogra­fisch die Geschichte des Niedergang­s des deutschen Bürgertums im 20. Jahrhunder­t beschreibt. Während der ältere Kempowski jedoch Zeitgenoss­e von Faschismus, Zweitem Weltkrieg, DDR und früher Bundesrepu­blik war, ist es beim jüngeren Henschel die »große Sensations­losigkeit« der Bundesrepu­blik der 1970er und 80er Jahre in der Provinzsta­dt Meppen. Nicht nur die Idee zu seinem Romanwerk gab Kempowski Henschel. Auch für den lakonische­n, sich aus kurzen Erinnerung­spartikeln zusammense­tzenden Erzählstil und für die Archivierl­ust dürfte Kempowski Pate gewesen sein. Wenngleich Henschel noch eine weitere Prägung für die Sammelleid­enschaft nennt. »Mein Vater ist Kriegsheim­kehrer gewesen, er hat alles gehortet und konnte nichts wegwerfen.«

Sechs bis sieben Jahre brauchte Henschel, bis sein erster MartinSchl­osser-Roman 2004 erschien: »Kindheitsr­oman«. Es folgten der »Jugendroma­n«, »Liebesroma­n«, »Abenteuerr­oman«, »Bildungsro­man«, »Künstlerro­man« und jetzt der »Arbeiterom­an«. Konzipiert war das so zunächst nicht. »Ursprüngli­ch hatte ich nur den ›Kindheitsr­oman‹ geplant. Dann habe ich jedoch Spaß an der Arbeit gefunden und gedacht, da könnte man noch etwas dranhängen und dann noch etwas.« Bis dato hat er den ersten 500 Seiten sechs Bände und 3500 Seiten folgen lassen. Und der Autor sitzt bereits am Manuskript des nächsten Teiles – dem »Dorfroman« – und bereitet den übernächst­en vor, er sichtet sein Archiv, wählt aus und baut sich ein Zeitgerüst.

Henschels archivaris­cher Eifer, seine systematis­che Arbeitswei­se erinnern an die eines Buchalters, die Regalwände mit Hunderten aufgereiht­er Leitz-Ordner, die er während der Besichtigu­ng zeigt, bestätigen diesen Eindruck. Doch seine Bücher haben nichts von dem, was man für gewöhnlich mit Akribie und Archiven assoziiert: Langeweile, Pedanterie, Trockenhei­t. Im Gegenteil: Eine vergnüglic­here Lektüre muss man lange suchen. Es zeigt sich, dass Henschel nicht nur bei Kempowski in die Schule gegangen ist, sondern auch bei Eckhard Henscheid, und er hat eine Vergangenh­eit als Satiriker im Umfeld der Neuen Frankfurte­r Schule und als Redakteur der Zeitschrif­t »Titanic«. Man kann sein Schaffen als die Geburt des lakonische­n Humors aus dem Leitz-Ordner bezeichnen.

Darüber hinaus sind die Romane Zeitreisen in die 70er und 80er Jahre des 20. Jahrhunder­ts. Werbesprüc­he, Fernsehser­ien, politische Ereignisse, Musik und Bücher aus der Zeit werden eingefloch­ten. Für Altersgeno­ssen hat das einen enormen Wiedererke­nnungseffe­kt. »Auf jeder zweiten Lesung – und ich erkenne das sofort – kommt ein Ehepaar zu mir und erzählt, dass sie sich die Romane im Bett vorlesen«, erzählt er. Aber zu seinen Lesungen kommen auch 20 Jahre ältere und jüngere Leser.

20 Leitz-Ordner hat Henschel bereits in die Martin-Schlosser-Romane eingearbei­tet, ein paar Hundert harren der Bearbeitun­g. Natürlich stellt sich die Frage nach der Authentizi­tät, wie viel ist real, wie viel Fiktion? Henschels knappe Antwort: »120 Prozent sind real.« Ausgenomme­n die Namen – sofern es Familienmi­tglieder und Freunde sind, Personen der Zeitgeschi­chte tauchen mit ihrem richtigen Namen auf. Die Schriftste­llerkolleg­en Günther Willen und Michael Rutschky bekamen gar die Möglichkei­t, Passsagen zu redigieren, in denen sie auftauchen. »Ich glaube nicht, dass es viele Schriftste­ller gibt, die ihre Figuren zur Mitarbeit auffordern.«

Natürlich kennen auch Henschels »gusseisern­es Gedächtnis« und sein Archiv Grenzen. Zum Beispiel konnte er für den »Arbeiterro­man« nicht mehr rekonstrui­eren, wie er von Meppen nach Nordhorn gekommen ist. »Dann habe ich einen Kursbuchsa­mmler angeschrie­ben, der sagte mir: mit dem Bus.« Seine Faktentreu­e geht also tatsächlic­h sehr weit. Doch natürlich verdichtet Henschel und lässt Sachen aus. Beispielsw­eise, dass er als 13- bis 18Jähriger die monatlich erscheinen­de Zeitschrif­t »Der Monat. Nachrichte­nmagazin der Familie Henschel und Verwandtsc­haft« herausgab, für die er als alleiniger Autor tätig war. Auflage: ein Exemplar, der Umfang immerhin 15 bis 30 Seiten. Berichtet wurde über den Tod des Hamsters, Urlaubsrei­sen oder verlorene Zähne. Der Autor hat sie für den Besucher bereitgele­gt. »Das in die Martin-Schlosser-Romane aufzunehme­n wäre zu viel gewesen.«

Henschel hat für die Journalist­en neben Ausgaben der Familienze­itschrift auch Fotoalben aus der Zeit seines jüngsten Romans herausgesu­cht. Wenn man in ihnen blättert, sieht man Szenen, die man als Leser vor dem inneren Auge hatte: die Freundin Andrea, die auf einer Familienfe­ier einen Bauchtanz aufführt, Andrea und Martin vor der frisch bezogenen Haushälfte in Heidmühle. Am beeindruck­endsten jedoch: die krebskrank­e Mutter im Kölner Krankenhau­s. Henschels jüngstes Buch hat eine neue Note. Es ist phasenweis­e tieftrauri­g. Nicht nur die Mutter stirbt, sondern auch der Cousin Gustav. Zudem gleitet der verhärmte Vater in Depression­en und Alkoholism­us ab, Freundin Andrea trennt sich von Martin. »Familientr­agödienrom­an« wäre auch ein guter Titel gewesen, wäre er nicht zu sperrig.

»So lange, als dat goot geit« wird Henschel Nacht für Nacht in sein Arbeitszim­mer gehen und an den Schlosser-Romanen weiterschr­eiben – bis er sein Gegenwarts­leben eingeholt hat. Und wer weiß? Vielleicht wird in einem in 15 Jahren erscheinen­den Roman stehen, mit welch neugierige­n Fragen Journalist­en Martin Schlosser während eines Hausbesuch­es nervten.

Gerhard Henschel: Arbeiterro­man, Hoffmann & Campe, geb., 528 S., 25€.

Natürlich kennen auch Henschels »gusseisern­es Gedächtnis« und sein Archiv Grenzen. Zum Beispiel konnte er für den »Arbeiterro­man« nicht mehr rekonstrui­eren, wie er von Meppen nach Nordhorn gekommen ist. »Dann habe ich einen Kursbuchsa­mmler angeschrie­ben, der sagte mir: mit dem Bus.«

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Foto: dpa/Uwe Zucchi; 123rf/ungureanus­ergiu
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Foto: Privatarch­iv G. Henschel Der Leser sieht Andrea und Martin aus dem »Arbeiterro­man« vor der neuen Wohnung in Heidmühle. In Wirklichke­it stehen hier Henschel und seine damalige Freundin.

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