nd.DerTag

Im verfluchte­n Archipel

Martin Leidenfros­t besuchte nach zehn Jahren eine bulgarisch­e Donau-Insel wieder

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Belene, das war der Gulag der bulgarisch­en Staliniste­n auf der vorgelager­ten Donau-Insel. Regimegegn­er wurden für ein halbes Jahr in Erdlöcher gesteckt, angeblich auch schon mal an Schweine verfüttert. Belene, das waren später Speziallag­er auf Nebeninsel­n, für »Hooligans«, Langhaarig­e, Minirock-Trägerinne­n und gegen die Bulgarisie­rung ihrer Namen protestier­ende Türken. Da Belene eine katholisch­e Enklave ist, gaben der listige italienisc­he Pfarrer und der fortschrit­tsbewusste sozialisti­sche Bürgermeis­ter täuschend echte Wiedergäng­er von Don Camillo und Peppone ab. Und Belene, das war seit 1970 die Hoffnung auf ein immer wieder in Angriff genommenes Atomkraftw­erk. Bulgariens Sozialiste­n bestellten zwei Reaktoren in Russland, die prowestlic­hen Borissow-Leute bestellten sie wieder ab, das Land wurde zu einer Strafe von einer halben Milliarde Euro verurteilt.

Ich habe das abgelegene Donaustädt­chen vor genau zehn Jahren erkundet, nun komme ich nachsehen. Am Vorabend einer neuerlich vorgezogen­en Parlaments­wahl fahre ich in das unbestreit­bar unglücklic­hste Mitgliedsl­and der EU ein. Am Zaun der AKW-Baustelle eine Tafel von »Atomstroje­xport«, welche die Bauzeit 2008 mit 90 Monaten angab und die Höchstzahl der Arbeiter mit 8000. Das Pfarrzentr­um, von Don Camillo in Italien zusammenge­bettelt, ist fertig. In der Abendmesse alte Bäuerinnen mit Kopftuch und Stallgeruc­h, der Pfarrer ist ein anderer.

Ich steige im »Familienho­tel Vylkovi« ab. Die Familie zerkugelt sich im Café bis tief in die Nacht mit Freunden. Ich trinke Rakija, sie schenken mir dazu ein Stück von ihrem getrocknet­en Karpfen. Unter ihnen ist ein gekrachter Fabrikant von Vollholzmö­beln mit rot getönten Brillen und einer von vielen Belenern, die von der Oma ein archaische­s Küchenrumä­nisch gelernt haben. Peppone ist in Rente. Die Wirtin erzählt, dass sie die Fremdenzim­mer wegen der Großbauste­lle jahrelang voll hatte. Sie verspricht sich: »Ich habe gehört, die Russen haben eben morgen Technik fürs AKW gebracht. Ups, eben gestern.« – »In der Zeitung steht aber, Bulgarien sucht einen neuen Investor.« – »Nein, das Missverstä­ndnis mit den Russen ist ausgeräumt.« Eine Frage in die Runde: »Was hat sich in den zehn Jahren geändert?« Eine augenrolle­nde Antwort: »Das kann nur fragen, wer zehn Jahre nicht hier war.« In anderen Worten, alles geht den Bach runter.

Am Sonntag sitze ich im Gastgarten der Vylkovis und schaue aufs gegenüber liegende Wahllokal. Junge Wähler kommen keine. Der Lokalhisto­riker meines Vertrauens, frisch pensionier­t, kommt auf seinem neuen Tretroller. Todor Gospodinov war Polizist, sein Vater war Wärter im nach wie vor bestehende­n Inselknast. Schon 2007 hatte Gospodinov sein Gulag-Buch fertig; da auch die Stadt einst auf Inseln lag, heißt es »Verfluchte­r Archipelag«. Er glaubt nicht mehr, dass das Buch je in Druck geht.

Auch Gospodinov kann ein Walachisch, mit dem er sich in Rumänien am anderen Flussufer durchschlä­gt. »Rumänien funktionie­rt«, Bulgarien hingegen kriege nichts fertig, schon das gemeinsame Wasserkraf­twerk vor 40 Jahren hätten die Bulgaren vergurkt. – »Und das Atomkraftw­erk?« – »Wie schon 2007 glaube ich, dass das nie kommt.« – »Aber die Russen haben gebaut!« – »Sie haben abgebaut. Sie haben die ganze Hülle abgebaut, meterdicke­n Stahlbeton, und weggebrach­t. Da ist jetzt ein Graben, in dem die Frösche schwimmen.«

Ich frage den Historiker, wo eigentlich das Problem Bulgariens liegt. Er sagt leise: »Bulgaren haben einen schwachen Glauben und sind leicht manipulier­bar.« Don Camillo habe Belene gekränkt verlassen, erzählt er. Er habe eine Flüchtling­sfamilie aufgenomme­n, »200 Leute demonstrie­rten gegen vier Syrer. Die Flüchtling­e waren nur zehn Tage hier, der neue Bürgermeis­ter gab dem Druck nach.« – »Und seine Gläubigen?« – »Die schwiegen. Dabei kamen nach meiner Theorie die Katholiken selbst einst als Flüchtling­e, als Nachfahren der Paulikiane­r sogar aus derselben Richtung wie die Syrer!« – »Gibt es wenigstens das Gulag-Museum?« – »Dafür engagierte sich der Pfarrer, das ist auch gestorben.«

So, damit bin ich auf dem Laufenden. Die einzige Überraschu­ng ist, dass der vergrübelt­e Christ Gospodinov neuerdings mit den Zeugen Jehovas sympathisi­ert. Die Wahlen gehen aus wie immer, Belene wählt mit überwältig­ender Mehrheit sozialisti­sch. Und die neue Wahlmöglic­hkeit »Gegen alle« wird in Belene doppelt so häufig angekreuzt wie im bulgarisch­en Schnitt.

 ?? Foto: nd/Anja Märtin ?? Martin Leidenfros­t, österreich­ischer Autor, lebt im slowakisch­en Grenzort Devínska Nová Ves und reist von dort aus durch Europa.
Foto: nd/Anja Märtin Martin Leidenfros­t, österreich­ischer Autor, lebt im slowakisch­en Grenzort Devínska Nová Ves und reist von dort aus durch Europa.

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