Erzählen, was die Leute nicht wissen
Zum 100. Geburtstag Johannes Bobrowskis sind nun auch die Briefe erschienen
Er war beinahe dreißig Jahre tot, als man in Marbach fragte: Bobrowski – »Wer ist denn das?« Da war er, von der treuen Schar der Bewunderer abgesehen, fast vergessen. Damals, im Mai 1993 (im Jahr darauf auch in Berlin), holte ihn das Literaturarchiv auf der Schillerhöhe für Monate in einer opulenten Ausstellung ins Gedächtnis der Nachwelt zurück. Vier Jahre zuvor, 1989, als die Mauer noch stand, hatte Freund Christoph Meckel sein Erinnerungsbüchlein von 1977 noch einmal herausgegeben und in einer Fortsetzung von drei Druckseiten geschrieben: »Ein unverrückbarer Name in der DDR, ein Klassiker dort, versenkt in die Literatur, ein deutsches Standbild, das der Gesellschaft gehört – vor allem ein Autor, der viel gelesen wird … Im westlichen Deutschland weiterhin kaum verbreitet, ein großes, altes Möbel der Poesie, von Doktoranden und Spezialisten beansprucht, ein Fall von Dichtung, der nicht in die Zeit gehört. Die junge Generation kennt kaum noch seinen Namen …«
Die Marbacher Schau, das letzte bedeutende Bobrowski-Event, hat damals ihr Möglichstes getan, den Betrachter mit einem anschaulichen Bild des Autors zu versorgen. Der Katalog versprach weitere Aufschlüsse, wenn erst einmal die Briefe vorlägen. Von zwei Bänden war die Rede. Erst jetzt, gut zwanzig Jahre danach, hundert Jahre nach Bobrowskis Geburt am 9. April 1917 in Tilsit, sind die Briefe tatsächlich da, vier überraschend starke, vom Wallstein-Verlag in gewohnter Qualität publizierte Bände, über tausendzweihundert Schreiben, die Jochen Meyer penibel und umfassend kommentiert hat, die authentische Biografie, das spektakuläre Ereignis in diesem Gedenkjahr.
Der älteste Brief stammt vom 26. Mai 1937. Da hat man den Abiturienten zum »Reichsarbeitsdienst« der Nazis geholt, wo er auf »Hinterhältigkeit, Egoismus, Gemeinheit« traf und kaum jemanden fand, mit dem er sprechen konnte. Der letzte eine Zwei-Zeilen-Auskunft, geschrieben kurz vor dem 31. Juli 1965, dem Tag seiner Einlieferung in ein Berliner Krankenhaus, wo er am 2. September, nur achtundvierzig Jahre alt, starb. Dazwischen das Leben vor der Literatur, Krieg, Gefangenschaft und Antifa-Schule, dann, im Dezember 1949, die Rückkehr nach Berlin, die Arbeit im Verlag, erst bei Lucie Groszer, seit 1959 im Union-Verlag, die wenigen Jahre in der Öffentlichkeit, der Austausch mit Freunden, Schriftstellerkollegen, Verlegern, Lektoren, Lesern, Berichte über Alltägliches, die Lesungen, die Familie, die Reisen, die Überforderung zum Schluss.
Ende 1962 war es mit der Ruhe in seinem Leben vorbei. Er hatte 1961 seinen ersten Gedichtband veröffentlicht, im Jahr darauf den zweiten, beide in Ost und West, beide mit viel Anerkennung quittiert, aber das war nichts, gemessen an dem, was nun kam. Die Gruppe 47 hatte ihm, dem DDR-Autor, im Oktober auf der Tagung in Berlin-Wannsee ihren Preis zuerkannt, und danach war, wie er Ende November berichtete, »ein solcher Rummel« mit Interviews, Fotoberichten, Angeboten und Anfragen entstanden, »daß ich schon ernstlich versucht habe, die Behausung zu wechseln: unbekannt verzogen«. Erst im Februar 1962 hatte er in Versen auf seinen »Zuchtmeister« Klopstock geschrieben: »wie wollt ich sagen deinen Namen, wenn mich ein kleiner Ruhm fände«, jetzt war aus dem kleinen ein jäher, rasant anschwellender Ruhm geworden. Er traute ihm nicht recht, blieb vorsichtig und misstrauisch. Und war den dramatischen Folgen doch nicht gewachsen: »Sieh einmal, all der Käse spielt sich ja nach 8 vollen Arbeitsstunden im Verlag ab – und dann will ich noch schreiben, Geschichten und einen Roman, von dem das 1. Kapitel schon fertig ist.«
Er kehrte zur Lyrik nicht zurück, und auch der Roman »Levins Mühle« blieb erst einmal liegen. Später, im August 1963, wird Bobrowski in einem Brief mitteilen, dass er »in aller Stille daran geschuftet« habe, »aber es hat sich doch herumgesprochen. Gallimard in Paris, Engländer, Tsche- chen, Polen und natürlich sieben westdeutsche Verlage haben schon angefragt.« Der Autor, erschöpft, haderte indessen mit seinem Werk. Der »elende Roman« sei nichts geworden, schrieb er, und es sei »ganz verkehrt, mich zu einem ›großen Dichter‹ hinaufkitzeln zu wollen«. Wochen zuvor, als er daran noch arbeitete, war das Buch ein »Erholstückchen« gewesen, inzwischen aber, so sagen es die Briefe, hatte er vom Wirbel um seine Person erst einmal ge- nug: »Ich werd mich in dieser Literaturmühle nun also zu Tode laufen … Hätte ich das nur nie angefangen.«
Wusste er wirklich nicht, was ihm da gelungen war? Der Roman, der 1964 im Union-Verlag und bei S. Fischer gedruckt vorlag, sei wohl für den Leser »recht schwierig« geworden, meinte er, »schon wegen des Themas: er spielt an der früheren russischdeutschen Grenze in Westpreußen, 1874 im Sommer, und hat es also mit den gewissen nationalen und religiö- sen Gegensätzen zu tun, will aber gerade erweisen, daß die guten Leute zusammen leben können und es auch getan haben.« Er erzählte einen Kriminalfall. Ein reicher deutscher Mühlenbesitzer, der Großvater des Erzählers, hat erst Wasser gestaut und es eines Morgens dann abgelassen, so dass die Mühle des Konkurrenten weggeschwemmt wird. Der Konkurrent heißt Levin und ist Jude. Er zieht vor Gericht. Eine Verhandlung wird anberaumt und verschoben, eine andere kommt zu keinem Ergebnis. Am Ende verlässt Levin die Gegend. Auch den Großvater treibt es in die Stadt. »Lassen Sie mich doch in Ruhe«, ruft er noch, und ein anderer erwidert: »Nein!«, und der Erzähler ergänzt: »Und dieses Nein, das soll gelten.«
Bobrowski wollte keinen historischen Roman schreiben, nichts, was erledigt war und der Vergangenheit gehörte. Er wollte, so steht es auch in einem Brief vom 5. Januar 1965, »mehr zur Gegenwart als zur Historie sagen«. Er war bei seinem Thema geblieben, das schon seine Gedichte immer wieder behandelt hatten, umrissen mit den Worten: »die Deutschen und der europäische Osten … Eine lange Geschichte aus Unglück und Verschuldung, seit den Tagen des deutschen Ordens, die meinem Volk zu Buch steht.« Er hatte in seinem Roman (und auch in der Prosa, die ihm folgte) Deutsche, Litauer, Polen und Russen versammelt, Juden, Zigeu- ner, Vaganten und allerlei buntes Volk. »Meinen Landsleuten«, so hat er seine Absichten in einem Gespräch umrissen, »etwas erzählen, was sie nicht wissen« und »möglichst vielen Leuten zumindest ein Nachdenken beibringen.« Die politische Botschaft war ihm wichtiger als der Ruhm, der ihn zunehmend verstörte und auffraß. Ständig Anfragen und Interviewwünsche, Lesungen, Briefe, Besucher, immer wieder Unterbrechungen. Und das alles nach langen Arbeitstagen im Verlag. Er nahm es resigniert hin.
Die Briefe zeigen zuletzt einen Gehetzten, der unablässig über Müdigkeit klagt. Er betäubte sich zusehends mit Alkohol. »Es ist alles zu viel geworden«, schrieb er am 30. Dezember 1964. »Der Verlagskram ist über mir zusammengebrochen, alle Termine verhauen …, ich kam mit dem Anfang des neuen Romans nicht hin, das ging bis zur Schlaflosigkeit.« »Litauische Claviere« wurde dann im verzweifelten Parforceritt und unter quälenden Schmerzen doch noch fertig, im letzten Moment. Am Tag danach kam er mit einem Blinddarmdurchbruch ins Krankenhaus. Er konnte es nicht mehr verlassen.
Er war die Freundlichkeit, die Gutmütigkeit in Person, einer, der sich den verbissenen ideologischen Grabenkämpfen, deren Zeuge er manchmal wurde, strikt verweigerte, ein großer, formstrenger Lyriker und ein hinreißender Prosaist, der zum ursprünglichen, sinnlichen, vom Mündlichen beeinflussten Erzählen zurückfand und einen neuen, auffallend leichten Ton in die Literatur brachte. (Die Missachtung seines Werks heute, meint sein Verleger Klaus Wagenbach, »hat sicherlich etwas mit dem ›Thema‹ zu tun. Wir wollen von unseren östlichen Nachbarn nichts wissen, das scheint nun einmal abgemacht.«) Kein anderer Autor ist damals in Ost und West gleichermaßen und uneingeschränkt geschätzt worden. Aber im Westen zu leben, sagt Christoph Meckel, interessierte ihn nie. Er hätte gern in Rostock gewohnt, fern von allem Trubel, ohne Druck, mit Zeit zum Lesen, Musizieren und Schreiben, ganz bei sich selbst. Doch auch dieser Traum ging in den letzten Monaten verloren.
»Ich werd mich in dieser Literaturmühle nun also zu Tode laufen … Hätte ich das nur nie angefangen.«
Johannes Bobrowski: Briefe 1937–1965. Hrsg. und kommentiert von Jochen Meyer. Wallstein Verlag, 4 Bde., zus. 2724 S., geb. im Schuber, 199 €.
9.4., 15 Uhr: »Vogel komm – Johannes Bobrowski zum 100. Geburtstag«. Konzertlesung mit Henry-Martin Klemt, Rita Klemt, Ursula Suchanek und Thomas Strauch, Lyrikhaus Joachimsthal
18.4., 18 Uhr: »Ein Abend für Johannes Bobrowski« mit Klaus Bellin. AnnaSeghers-Gedenkstätte, Berlin; Anmeldung erforderlich,
Tel.: (030) 677 47 25.