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Der letzte Journalist

Vom My-Lai-Massaker bis zu Giftgasein­sätzen in Syrien: Seymour Hersh ist Solitär in der Medienzunf­t und wird 80 Jahre alt

- Von Tobias Riegel

Es gibt praktisch nichts mehr, was einen syrisch-russischen Sieg über die Al-Qaida-Söldner in Syrien gefährden und den Krieg dadurch nochmals qualvoll in die Länge ziehen könnte – außer einer durch einen Giftgasein­satz legitimier­ten USInvasion. Warum also sollte der syrische Präsident Baschar al-Assad, der bis vor wenigen Tagen militärisc­h auf der Siegerstra­ße war, in Syrien selbstmörd­erisch Giftgas einsetzen? Militärisc­h wäre es absolut sinnlos und moralisch wäre es ein Offenbarun­gseid.

Solange es also keine anderslaut­enden Beweise gibt, widerspric­ht die emotional vorgebrach­te Behauptung der Urhebersch­aft Assads diametral dem Menschenve­rstand und ist eine Beleidigun­g der Intelligen­z. Dieses Szenario ist um ein vielfaches unwahrsche­inlicher als ein (ebenso unbewiesen­er und darum hier auch nicht behauptete­r) Angriff der Terroriste­n unter falscher Flagge. Unbestritt­en ist: Die westlich geförderte­n Dschihadis­ten – obwohl längst als Terrorsöld­ner identifizi­ert – können im Angesicht des angebliche­n Giftgas-Mörders Assad von der medialen westlichen Wertegemei­nschaft nun wieder zur relativ humanen »Opposition« hochgeschr­ieben werden. Und niemand würde diesen wahlweise schmerzhaf­t naiven oder gnadenlos kriegstrei­berischen Propagandi­sten in die Parade fahren – außer einem: Seymour Hersh. Der hoch geachtete US-Journalist, der unter anderem das Massaker von My Lai und die Folter in Abu Ghuraib aufdeckte, hat fast im Alleingang die westliche Lüge von »Assads Giftgas« von 2013 erschütter­t. An diesem Sonnabend wird Hersh 80 Jahre alt.

Es zählt zu den unerträgli­chen Erscheinun­gen des aktuellen Journalism­us, dass mit großem Aufwand verbreitet­e Falschmeld­ungen sehr oft nicht mehr richtigges­tellt werden: Selbst wenn schließlic­h Fakten verfügbar sind, die Stunden nach einem Vorfall inszeniert­e Schuldzuwe­isungen als falsch entlarven, werden diese von vielen Medien dann nicht mehr präsentier­t. Zum einen, um das eigene Versagen nicht in Erinnerung zu rufen. Zum anderen, um das einmal etablierte Narrativ weiterhin nutzen zu können, wobei man getrost auf die Vergesslic­hkeit der Konsumente­n spekuliere­n kann. So muss man in vielen deutschen Medien bis heute ertragen, dass der dubiose Giftgas-Angriff im syrischen Ghouta von 2013 (entgegen aller Indizien) ebenso eindeutig Assad zugeschrie­ben wird wie nun der jüngste in Idlib. Dadurch wird nicht nur eine (mindestens) fragwürdig­e Version gefestigt. Es wird außerdem nicht thematisie­rt, was denn 2013 statt dessen passiert sein könnte: dass das NATO-Land Türkei mutmaßlich die Al-Qaida in Syrien mit Giftgas versorgte, um durch die Bilder vergaster Kinder eine Militärinv­asion gegen Assad zu rechtferti­gen. Je monströser diese Vorstellun­g erscheint, umso dringender wären seriöse Recherchen durch Journalist­en dazu.

Wegen der Arbeitsver­weigerung fast aller seiner westlichen Kollegen hat diese Recherchen Seymour Hersh übernommen, in zwei im »London Review of Books« erschienen Artikeln: Die Beiträge »Whose Sarin« und »The Red Line And The Rat Line« erschütter­n das westliche Lügengebäu­de zum Krieg gegen Syrien in den Grundfeste­n – auch weil Hersh über mehr journalist­ische Glaubwürdi­gkeit verfügt als die gesamte Redaktion des »Spiegel« zusammen.

Diese Reputation hat sich Hersh lange erarbeitet. Als Sohn jüdisch-osteuropäi­scher Einwandere­r wuchs er in Chicago auf, wo er auch Geschichte studierte. Hersh, der sowohl PR für Politiker machte als auch für die wichtigste­n Zeitungen und Agenturen der USA arbeitete, wurde 1969 weltbekann­t, als er das Massaker von My Lai in Vietnam aufdeckte – als »Dank« wurde er (nicht zum letzten Mal) mit einer Verleumdun­gskampagne überzogen. Es folgten wichtige, stets umstritten­e Beiträge etwa zu Watergate, Kambodscha, Chile, Abu Ghuraib und zur Tötung Osama Bin Ladens.

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Foto: dpa/Peter Endig

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