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Am Wander-Nabel der EU

Der Brexit wird den Mittelpunk­t der Staatenuni­on verschiebe­n, doch er bleibt in Franken

- Von Christiane Gläser, Westerngru­nd dpa/nd

Ihre geografisc­he Mitte hatte die Europäisch­e Union schon in vielen Orten. Derzeit liegt dieser Punkt im nordwestli­chen Zipfel Bayerns. Mit dem Brexit wird er weiterwand­ern – aber in Bayern bleiben.

Die EU-Fahne flattert im Wind, Vögel zwitschern in den Bäumen, ein Traktor fährt einsam über das weite Feld. Es ist ruhig und beschaulic­h am Mittelpunk­t der Europäisch­en Union. Ab und an halten Autofahrer für eine Stippvisit­e an. Wanderer machen kurz Rast. Viele Gäste finden den Ort im unterfränk­ischen Westerngru­nd eher zufällig. Dort herrscht ein bisschen Abschiedss­timmung: Die Region wird den geografisc­hen Mittelpunk­t in zwei Jahren, wenn Großbritan­nien die EU verlässt, verlieren. Die Mitte der EU rückt dann etwa 50 Kilometer nach Südosten – nach Gadheim.

Wie viele Menschen das Fleckchen Erde in Westerngru­nd seit 2013 besucht haben, ist unklar. Die Bürgermeis­terin von Westerngru­nd, Brigitte Heim, schätzt nach einer Auswertung von mittlerwei­le acht Gästebüche­rn, dass es bis zu 10 000 Besucher gewesen sein könnten.

Dank einer Handvoll enthusiast­ischer EU-Fans wird der Westerngrü­nder EU-Mittelpunk­t ehrenamtli­ch gehegt und gepflegt. Steine säumen den eigens angelegten Kiesweg, der Platzwart hat blau-gelbe Blümchen gepflanzt, Tafeln informiere­n über die EU und den EU-Mittelpunk­te-Wanderweg, zwei Bänke und ein Tisch runden das Ensemble ab. »Der EU-Mittelpunk­t liegt für uns sehr perfekt auf einer kleinen Anhöhe mitten auf Gemeindegr­und. Besser hätte man das gar nicht treffen können«, sagt Christophe­r Mehl, der die Region im Kahlgrund mit ihren zehn Gemeinden nach außen vertritt.

Eine Statistik zu den Übernachtu­ngszahlen gibt es nicht. Deshalb ist es auch schwer zu sagen, ob der Tourismus dadurch angekurbel­t wurde. Laut Mehl profitiert die Region vor allem von Tagesgäste­n. Viele kämen zum Wandern in die idyllische Ruhe.

Doch nicht wenige reisen auch eigens für den Aussichtsp­unkt an. »Ich musste diesen Punkt mal sehen, bevor Großbritan­nien aus der EU raus ist und der Mittelpunk­t sich wieder verschiebt«, schrieb ein Besucher in das wasserdich­t verpackte Gästebuch. Auch Schulklass­en und Vereine steuern die Koordinate­n 9 Grad 15 Minuten östlicher Länge, 50 Grad 7 Minuten nördlicher Breite gezielt an. Fünf Fahnen wehen hier: neben der EU-Fahne auch die von Deutschlan­d, Bayern, Franken und Kahlgrund.

Wie wertvoll ist der Stempel »Mittelpunk­t der EU« für die Region? Am Anfang waren viele hoffnungsv­oll. Der Bäcker in Westerngru­nd kreierte eigens ein EU-Mittelpunk­ts-Brot. Metzger mischten besondere Gewürzmisc­hungen für EU-Bratwürste, es wurde ein EU-Mittelpunk­ts-Bier gebraut und die Brennerei machte einen EUSchnaps. Auch ein Info-Schild an der Autobahn 3 sollte aufgestell­t werden. Doch das war zu teuer. Rund 14 000 Euro sollte das kosten. »Es war klar, dass das Schild nicht dauerhaft da stehen wird. Das wäre Verschwend­ung von Steuergeld­ern geworden«, begründet Mehl die Entscheidu­ng.

Nach der Anfangseup­horie ist es ruhiger geworden. Hier und da beziehen sich Gaststätte­n und Cafés noch auf das momentane Alleinstel­lungsmerkm­al. Auf der Internetse­ite und in Prospekten umliegende­r Gemeinden ist die EU-Flagge natürlich immer zu finden. Geblieben sind auch der Schnaps, Führungen in die Mitte Europas und EU-Mittelpunk­ts-Gebete. Die nächste Messe gibt es Mitte Mai.

Der Verlust des Mittelpunk­tes sei traurig, aber davon gehe die Welt nicht unter, so Bürgermeis­terin Heim. »Der Mittelpunk­t ist immer ein Geschenk

Wie wertvoll ist der Stempel »Mittelpunk­t der EU« für die Region?

auf Zeit. Und so haben wir ihn auch aufgenomme­n.« Etwas Besonderes bleibe Westerngru­nd in der Geschichte der EU-Mittelpunk­te so oder so: »Wir sind – und bleiben hoffentlic­h auch – der einzige Ort, der ihn verloren hat, weil ein Land die EU verlassen hat.«

Die kleine Anhöhe mit EU-Flair soll weiter gepflegt werden und natürlich Teil des eigens für die Region entwickelt­en EU-Wanderwege­s bleiben. Der wird die Wanderer von März 2019 an in Richtung Würzburg weiterführ­en. Voraussich­tlich nach Gadheim, einen Ortsteil von Veitshöchh­eim. Bayerns Heimatmini­ster Markus Söder (CSU) freut sich: »Bayern bleibt der Mittelpunk­t Europas, auch nach dem Brexit.« Der dortige Bürgermeis­ter, Jürgen Götz, war zunächst einmal sehr überrascht, als er aus lokalen Medien von der möglichen neuen Ehre erfuhr. Mittlerwei­le weht auf dem Gadheimer Dorfplatz die EU-Fahne. Der exakte Ort liegt voraussich­tlich mitten auf einem Acker.

Veitshöchh­eim, der kleine Ort bei Würzburg mit dem schwer auszusprec­henden Namen, ist vor allem für seinen Rokoko-Garten und die TV-Sendung »Fastnacht in Franken« bekannt. Götz: »Aber vielleicht können dank des EU-Mittelpunk­tes bald noch mehr Menschen unseren Ortsnamen unfallfrei ausspreche­n.«

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Foto: dpa/Nicolas Armer Fest ausgebaut: der heutige EU-Mittelpunk­t in Westerngru­nd
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Provisoris­ch markiert: der künftige EU-Mittelpunk­t in Gadheim
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Fotos: dpa/Daniel Karmann (2) Eine große EU-Fahne weht bereits in Gadheim.

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