Der Fritz, der Hugo und ein gewisser Lenin
Geschichte(n) vor 100 Jahren, als Krieg war im April.
1917 ging der Erste Weltkrieg in sein viertes und vorletztes Jahr. Im Osten deutete sich ein Ende an, in Petrograd rebellierte das Volk. Lenin verfasste seine April-Thesen. Deren vordringliches Ziel lautete: Frieden!
Friedrich (Fritz) Karl Ludwig Kleffel wurde Anfang März 1887 in Essen-Altessen geboren, er lebte in Dietzhausen. Das Thüringer Dorf gehört heute zu Suhl. Dort ist er auch gestorben. Juni 1981. Nachkommen gibt es nicht, wohl aber ein Erbe. Es besteht aus Fotos und einem Tagebuch. Beide sind der Allgemeinheit gewidmet, seit der in Berlin lebende Rudi Denner sie in der Dorfkirche seines Heimatortes ausgestellt hat. »Gestalte Ausstellungen zur Ortsgeschichte mit Eurem Material« – das Denner-Konzept ist schon seit rund zwei Jahrzehnten erfolgreich. Die Ausstellung mit Kleffels Fotos war vor drei Jahren zu sehen. Wie überall im Land erinnerte man auch im Thüringischen daran, dass vor 100 Jahren der Erste Weltkrieg begonnen hat. Das Erinnern an die Gräuel hält aber auch dort nicht vier Jahre lang. Zu viel aktuelles Völkermorden überdeckt die Geschichte. Doch die Bilder sind einzigartig, zu schade nur fürs Archiv.
Der erste von zwei Kriegen, die Deutschland in die Welt getragen hat, dauerte bis 1918. Über 1,8 Millionen deutsche Soldaten kamen um. Frankreich beklagte 1,4 Millionen tote Soldaten. Großbritannien verlor 900 000 Mann. Schwer traf es auch Russland. 1,8 Millionen Soldaten kamen nicht von den Fronten zurück.
Fritz Kleffel kämpfte an der Ostfront. Nicht im ersten Graben. Er war Funktechniker bei der Feldfliegerabteilung 4. So eine Luftwaffentruppe hatte in der Regel Kompaniestärke. Die rund 150 Mann verfügten vermutlich über sechs bis acht Mehrzweckflugzeuge. Mit denen wurde Aufklärung geflogen, das Artillerie- feuer gelenkt und Bombentod gebracht.
Die Einheit war zu Kriegsbeginn im Elsass, in Metz und Freiburg im Breisgau stationiert. Zunächst wurde sie gegen Frankreich gehetzt. Damals flog ein Hauptmann Hugo Sperrle gegen die »Franzmänner«. Er wurde verwundet, ausgezeichnet und bekam im Dezember 1915 ein eigenes Kommando. Nach dem Krieg sollte er eine besondere Karriere machen.
Es ist wahrscheinlich, dass Kleffel ihn gekannt hat, auch wenn Sperrle in Kleffels Tagebuch keine Erwähnung findet. Die Eintragungen beginnen am 1. Juli 1915: »Transport kommandiert nach Russland«, steht da lapidar.
In diesen Tagen träumte ein Mann in Zürich von der Revolution und der »Umwandlung des imperialistischen Krieges in einen Bürgerkrieg«. Der Russe Wladimir Iljitsch Lenin behauptete, dass die revolutionäre Stimmung der Massen in Russland ansteige. So schrieb er es in einer Broschüre, deren Titel »Sozialismus und Krieg« lautet. Sie erschien im September 1915 in deutscher Sprache. Weder Kleffel noch Sperrle werden eine Zeile davon gelesen haben. Lenin sah diese Stimmung nicht nur in seiner Heimat, er sah sie auch »in anderen Ländern allerorten – trotz der Unterdrückung der revolutionären Bestrebungen des Proletariats durch die Mehrheit der offiziellen sozialdemokratischen Parteien, die sich auf die Seite ihrer Regierungen und ihrer Bourgeoisie gestellt haben«.
War das so? Aus Kleffels ebenso banalem wie aufschlussreichem Ta- gebuch kann man herauslesen: Fast hätte es geklappt mit der deutschen Revolution – in der Truppe meckerte man schon.
»Auf einer Anhöhe nahe der Straße war eine Stellung der Russen, Schützengräben welche wahrscheinlich von uns im Sturm genommen waren. Es lagen dort Gewehre, Seitengewehre und sonstige Sachen. Ich sprang in die Gräben, um mir die ganze vor wenigen Stunden noch blutige Sache anzusehen. Im 1. Unterstand hatte ich eine kleine Katze erwischt, welche ich mit nahm.« Das schreibt Kleffel am 6. Juli 1915. Sieben Tage darauf macht des Kaisers Soldat sich Gedanken über sich in der Welt: »Es ist doch ein schauriges Gefühl, wenn man so allein in Feindesland auf Wache steht und weiter vor mir ringen Völker miteinander auf Leben & Tod. Es ist eine schwere Schlacht im Gange.«
Der Beobachter mit Kamera und Stift hat viele Alltäglichkeiten festgehalten. Das Aufstehen meist gegen 6 Uhr, den Morgenkaffee, Belehrungen über Geschlechtskrankheiten, die Wartung der ihm anvertrauten Technik, er notierte Regen, Sonne und Eiseskälte, war zufrieden, von einer »Bauersfrau ¾ Liter Milch und 2 Eier wofür ich 32 Pfg. bezahlte«, ergattert zu haben. Am 11. August hielt er – wie zumeist fast emotionslos – fest, wie man bei Ostrow Quartier bezog auf einem großen Gut, welches einem russischen Fürsten gehörte. »Ich machte Beerdigungskommando, habe denselben Tag noch 4 Pferde, einen Russ, zwei Hunde beerdigt. Auch wohnte ich der ergreifenden Bestattung von 3 deut-
»Es ist doch ein schauriges Gefühl, wenn man so allein in Feindesland auf Wache steht und weiter vor mir ringen Völker miteinander auf Leben & Tod. Es ist eine schwere Schlacht im Gange.«
schen Soldaten durch ihre Kameraden mit bei.«
Kleffel musste nicht selbst töten. Nur Apparate zum Töten warten und mehrfach den Tod verstecken: Am 1. September 1915 wurde er beauftragt, »mit zwei Kameraden 1 toten Russen zu beerdigen... Derselbe war schon stark in Verwesung über gegangen. Ich machte schnell ein Loch und zog ihn hinein.« Keine zwei Wochen später notierte er etwas über die Ansprache seines Hauptmanns. Der meinte, »daß es jetzt so wenig Brot gäbe und daß die Truppen vorne noch weniger hätten. Wir sollten noch zufrieden sein. Aber zum Donnerwetter, wenn man nichts zu essen bekommt, kann man nichts leisten. Es wäre am besten, (wenn) der ganze Krieg, welcher meiner klaren Überzeugung (nach) doch bloß für die Großkapitalisten ist, aufhörte.« Und neben dem großen Elend notierte er die kleinen Sorgen, versehen mit rassistischem Hochmut des Eroberers: »Auch läßt die Feldpost sehr ja sehr zu wünschen übrig. Die Post wird hier teilweise von den polnischen Juden, welche doch das Stehlen gewohnt sind, tagelang auf offenen Wagen gefahren mit ganz geringer Bewachung. Es ist kein Wunder, daß man die Hälfte nicht bekommt.«
Am 12. November »ging’s auf den Platz, wo ich den MaschinengewehrUnterstand mit baute. Wir haben täglich 5 gefangene Russen vom hiesigen Gefangenenlager zum Arbeiten hier. Es sind alle 5 nette Kerle, 1 aus Sibirien, einer aus Moskau, sein Vater ist Arzt daselbst und er Student der Jura. Wir arbeiten zusammen, als wenn wir Brüder wären.«
Weihnachten hielt der Hauptmann »eine Ansprache in Bezug auf Durchhalten. Dann wurden noch drei Mann mit dem Eisernen Kreuz bedacht. Verschiedene Mannschaften befördert, dann konnten wir unsere Liebesgaben nehmen. Ich hatte 1 Taschenmesser, 1 Unterhose, 1 Karton mit Äpfeln, Nüssen, Schokolade, Pfefferkuchen. Auch »1 Weihnachtspaket vom Frauenverein Dietzhausen« konnte er öffnen, »worin 1 paar Strümpfe, 2 paar Fußlappen, 1 Taschentuch, Schokolade und so weiter mehr« waren. »6 Uhr gab’s Gulasch und jeder Mann 1 ½ Becher Rum.«
Rum statt revoltieren. Doch an der Front muss die Lage Jahr zugespitzter gewesen sein: »Dann kam noch Einquartierung, zwei Infanteristen von der Front. Es waren Elsässer. Der eine, ein Unteroffizier, erzählte mir, daß vorne bei seinem Regiment vorige Woche l ganzer Zug mit dem Zugführer und ein paar Tage zuvor wieder 40 Mann übergelaufen wären. Die Stimmung wäre unter den Truppen miserabel, dieselben gehorchten den Befehlen nicht mehr. Die Offiziere lebten herrlich und in Freuden. Wir erzählten uns bis nachts 2 Uhr.« Am 1. Februar notiert er alltägliche Ungerechtigkeiten: »Man sieht also den Klassenunterschied im Felde zwischen Offizieren und Mannschaften. Wenn doch der gottverdammte Krieg bald zu Ende ginge, unser Morgen und Abendgebet.«
Doch noch hatte der Krieg erst die Halbzeit absolviert. Am 6. März 1916 liest man: »Die Russen schossen schon lebhaft. Die Maschinengewehre hämmerten ihr grausiges Lied. … Die Infanteriereserven bezogen gerade ihre Gräben. Gesenkten Hauptes, wie eine große Hammelherde, welche zur Schlachtbank geführt wird, gingen diese Opfer des Kapitalismus ihren Weg. Wie viele werden bis zur nächsten Löhnung nicht wiederkehren.«
Mitte August 1916 »wurden wir... untersucht, da dem Oberleutnant v. Grevenitz das Portemonie mit 250 Mark abhanden gekommen sei. Es wurde aber nichts gefunden, wer weiß wo selbiges gestohlen ist. Auch macht so ein Offizier wegen die paar lumpige Mark solch Aufsehen. Ich glaube bestimmt, daß wenn die Offiziere wie Mannschaften gleiche Löhnung und Essen bekämen, der Großkapitalistenkrieg längst zu Ende wäre... Des Abends war noch Löhnungs-Appell.« Übrigens: Kleffel bekam 5,30 Mark Sold und hin und wieder »Beutegeld«. »Man kann die paar Pfennige gebrauchen.«
Die Eintragung werden mit zunehmender Kriegsdauer knapper. Doch der Groll wider die Herren nicht. Anfang September 1916 liest man: »Das Wetter war schlecht, kalt mit etwas Regen. Ich blieb im Unterstand, wo ich an meinem Briefeinwurf arbeitet. Auch erfahre ich, daß den Herren Offiziere Abteilungsführer 15 Pfd. Butter Hauptmann Pärwald, 10 Pfd. Butter und Leutnant Ranot, 10 Pfd. Butter dem Koch Pocke mit nach Deutschland gegeben hatten. Wir bekamen heute Abend auch Butter und zwar 60 Gramm.«
Wo Beistand holen? Kleffel hatte es offenbar nicht so mit dem Glauben. Am 28. Januar 1917 schrieb er: »Heute ist Sonntag und dienstfrei, da kein Flugwetter. Ich habe Stubendienst. Um 11 Uhr ist Kirchgang. Der Pastor ein Divisionspfarrer, welcher den Leuten wieder mal den Honig ums Maul geschmiert hat. Des Abends erfahre ich, daß dieser saubere Herr mit samt unseren schönen Offizieren so besoffen war, daß er ein paar Mal unter den Tisch gelegen hatte. Wenn es so weiter geht, gewinnen wir den Krieg ganz sicher.«
Dann wurde der Tagebuchschreiber zu einem Lehrgang abkommandiert. Los ging es am 16. Februar 1917. »Stand ich um 5 Uhr auf machte mich zurecht und dann ging’s durch den russischen Winter zum Bahnhof. Des Mittags speiste ich im Speisewagen für 6 Mark mit ½ Flasche Weißwein. Am 17.2. früh 6.30 Uhr kam ich in Berlin Friedrichstraße an.« Damit enden die (gefundenen) Aufzeichnungen des Soldaten Fritz Kleffel.
Sechs Tage darauf erhoben sich Arbeiter und Soldaten in Petrograd. Der Zar dankte ab, eine provisorische Regierung übernahm das Chaos. Lenin – in Zürich – war zur Untätigkeit verurteilt und schrieb »Briefe aus der Ferne« für die bolschewistische Zeitung »Prawda«, die nach der Februarrevolution wieder zu erscheinen begann. Dann ließ man ihn absichtsvoll mit einigen Getreuen im plombierten Eisenbahnwaggon durch Deutschland in die Heimat reisen.
Dort angekommen, versuchte er die Revolution voranzutreiben und den Krieg, der »infolge des kapitalistischen Charakters dieser Regierung, unbedingt ein imperialistischer Raubkrieg bleibt«, zu beenden. »Einem revolutionären Kriege, der die revolutionäre Vaterlandsverteidigung wirklich rechtfertigen würde, kann das klassenbewußte Proletariat zustimmen nur unter der Bedingung: a) des Überganges der Macht in die Hände des Proletariats und der sich ihm anschließenden ärmsten Teile der Bauernschaft; b) des Verzichts in Taten und nicht nur in Worten auf alle Annexionen; c) des tatsächlichen und völligen Bruchs mit allen Interessen des Kapitals.«
Lenins »Aprilthesen« waren eine Art Sofortprogramm: Alle Macht den Sowjets, Beendigung des Krieges … Die Parole lautete: Friede – Freiheit, Land und Brot!
Was hat Fritz Kleffel davon erfahren? Wusste er von der Revolution in Berlin? Dass es in Deutschland Arbeiter- und Soldatenräte gab, hat der zum Unteroffizier beförderte Luftnachrichtenmann mitbekommen. Schließlich entließ ein solches Gremium ihn am 30. November 1918 aus dem Dienst. Kleffel ist nach Dietzhausen zurückgekehrt.
Auch ja, da ist ja noch dieser Hugo Sperrle … Dass der gefürchtete Monokelträger mit solchen Selbstverwaltungsräten nichts am Helm hatte, ist nachvollziehbar. Sperrle wurde von der Reichswehr übernommen. Ab 1934 war er führend am geheimen Aufbau einer neuen deutschen Luftwaffe beteiligt. Als General war er der erste Kommandeur der Legion Condor und ließ die »Roten« in Spanien zerbomben. Im Zweiten Weltkrieg hetzte er seine Geschwader »gegen Engeland« und »coventrierte« dort Städte. Er zeichnete verantwortlich für den ersten sogenannten Bandenbefehl gegen französische Widerstandskämpfer. In Nürnberg angeklagt, wurde er dennoch freigesprochen. Er starb 1953. Die Ordensgemeinschaft der Ritterkreuzträger sorgte dafür, dass Sperrle auf dem Soldatenfriedhof Schwabstadl nahe dem Fliegerhorst Lechfeld bestattet wurde.