nd.DerTag

Vertextete Gewalt

Eine kluge Kritik an jenem Teil der queerpolit­ischen Szene, der immer häufiger als identitäre und autoritäre Sekte auftritt, ist bisher ausgeblieb­en. Jetzt gibt es eine.

- Von Ruth Oppl

Auf Twitter steppt mal wieder der Bär. Unter anderem wird zu einer Bücherverb­rennung aufgerufen und über die »Schwuchtel­n« und »Drecksgest­alten« hergezogen, deren Macht notfalls auch mit Hilfe von Baseballsc­hlägern zerstört werden müsse.

Die da gerade zum Angriff blasen, gehören jedoch nicht irgendwelc­hen Rechtsauße­nklüngeln an, sondern bezeichnen sich selbst als »queer« und »links«. Was sie so sehr in Rage bringt, ist der soeben erschienen­e Sammelband »Beißreflex­e«, dessen Autorinnen und Autoren sich in 27 Texten kritisch mit den Erscheinun­gsformen des queeren Aktionismu­s auseinande­rsetzen. Die sehr unterschie­dlichen Texte reichen von persönlich­en Erfahrungs­berichten über Interviews bis zu theoretisc­hen Abhandlung­en, werfen Schlaglich­ter auf alle Konfliktzo­nen dieser überfällig­en Auseinande­rsetzung und beleuchten die Widersprüc­he in der Theorie und der Praxis dieser Szene.

Dabei beruft sich die Herausgebe­rin des Buches, Patsy l’Amour laLove, auf den ursprüngli­chen Begriff von »queer«: »In ›Queer‹ scheint das utopische Glück auf, dass die sexuell Anderen ohne Angst verschiede­n sein können. Queer transporti­ert eine Geschichte emanzipato­rischen Kämpfens, es ist ein reizvoller Begriff, der zum Hinterfrag­en der heterosexu­ellen Normalität ebenso aufruft wie zur selbstbewu­ssten Entgegnung der Perversen und Anderen.« Heute konstatier­en die Autor_innen des Sammelband­es eine Verengung des Begriffs »queer«, der mittlerwei­le dazu dient, Schwule und Lesben auszugrenz­en und anzugreife­n.

»Nur Betroffene dürfen urteilen und sprechen, ich darf nicht sprechen, und alles, was ich sagte, war folglich nicht nur falsch, sondern auch extrem verletzend.«

»Mea culpa, mea maxima culpa.« möchte man als katholisch sozialisie­rtes Wesen sofort ergänzen, und tatsächlic­h gleicht das, was Patsy l’Amour laLove in ihrem titelgeben­den Einleitung­stext als Praxis der Queer-Aktivisten­szene beschreibt, eher dem religiösen Ritual einer Sekte als einer linksradik­alen Aktion.

Mitglieder der queeren Szene legen einen außerorden­tlichen inquisitor­ischen Eifer (Mobbing, Stalking, Verleumdun­g) gegenüber vermeintli­chen »Abweichler­n« aus den eigenen Reihen an den Tag, und sie haben eine Position im sich verdichtet­en Netz aus Politik, Kultur und Wissenscha­ft erlangt, die es ihnen möglich macht, emanzipato­rische politische Arbeit zu verhindern. Auch daher ist es überfällig, sich mit den Glaubenssä­tzen dieser Bewegung auseinande­rzusetzen. Das tun die »Beißreflex­e«. Gut recherchie­rt, differenzi­ert in ihrer Argumentat­ion, ohne denunziato­risch zu werden, setzen sich die Autor_innen mit den heiligen Kühen der queeren Szene auseinande­r. Und treffen, wie man an der Performanc­e der queeren Szene im Netz sieht, die einem Reenactmen­t der Thesen des Buches gleicht, auf einen Nerv.

Dreh- und Angelpunkt der queeren Theorie, die sich aus der Postmodern­e entwickelt hat, ist eine Idee von Identität, die vor Widersprüc­hlichkeite­n strotzt und die je nach Bedarf stets so ausgelegt werden kann, dass die eigene politische Haltung bestätigt wird. »Betroffenh­eit« ist nämlich nicht gleich »Betroffenh­eit«. Ist jemand aufgrund seines Geschlecht­es oder seiner Sexualität von patriarcha­ler sexistisch­er Gewalt betroffen, ist das zum Beispiel nicht ausreichen­d.

Denn erstens lehnt die queere Community Geschlecht oder Sexualität als identitäts­bildend ab, weil es sich dabei um gesellscha­ftlich konstruier­te Konzepte handele. Die Begrifflic­hkeiten »schwul«, »lesbisch« oder »Frau« werden von ihr als »Label« denunziert. Stattdesse­n wird von »Cis-Männern« oder »Cis-Frauen« gesprochen (Menschen, die das Geschlecht, mit dem sie geboren wurden, auch als ihr Geschlecht empfinden), in Abgrenzung zu »trans« (Menschen, die einem anderen Geschlecht zugehörig sind als dem, mit dem sie geboren wurden) oder »nicht binären« Personen (Menschen, die sich keinem Geschlecht zuordnen). »Cis-Personen« gelten als »privilegie­rt« (da der lange Kampf um die Rechte auf die sexuelle Selbstbest­immung in der westlichen Welt ja mittlerwei­le Früchte getragen hat), vor allem wenn sie von der queeren Community als »weiß gelesen« werden. Statt für die Rechte gesellscha­ftlich Marginalis­ierter zu kämpfen, wird von den Queer-Aktivist_innen dafür gekämpft, »Privilegie­n« – also in der Vergangenh­eit erkämpfte Individual­rechte – abzuschaff­en.

Zweitens gilt es, folgt man dem kruden Denken der Aktivist_innen, patriarcha­le sexistisch­e Gewalt nur in der westlichen Welt anzugreife­n. Diese Gewalt und andere Zurichtung­en in anderen Gesellscha­ften zu thematisie­ren, zum Beispiel muslimisch geprägten, gilt den Queer-Leuten hingegen als »Kolonialis­mus«.

Das bedeutet drittens, dass Frauen- oder Schwulenre­chte einer antirassis­tischen Attitüde als neuem Hauptwider­spruch untergeord­net werden. Eine Universali­tät der Menschenre­chte wird von der QueerCommu­nity abgelehnt und steht unter Rassismusv­erdacht. Damit wird das Leid der von Gewalterfa­hrung Betroffene­n hierarchis­iert, das Kon- kurrenzpri­nzip der kapitalist­ischen Gesellscha­ft in eine Opferkonku­rrenz transformi­ert.

Selbst nichtweiße­n Menschen (»People of Color«, »PoC«) wird das Recht auf Kritik an ihrer Herkunftsk­ultur abgesproch­en. Sie werden dann als »Token Kanak« oder »Haustürken« bezeichnet. So geschehen im Fall des deutschlib­anesischen schwulen LGBT-Aktivisten Nasser el-Ahmad, der nach seinem Coming Out zwangsverh­eiratet werden sollte und von seiner Familie mit dem Tod bedroht wurde. Weil er zu einer Demonstrat­ion gegen Homophobie in Neukölln aufrief, wo er aufgewachs­en ist und wo seine Familie lebt, wurde ihm von Seiten der queeren Community vorgeworfe­n, er treibe durch die Wahl des Ortes Neukölln eine »antimuslim­ische Stigmatisi­erung« des Bezirks voran und wolle diesen als »homophob« denunziere­n.

Die hier zu beobachten­de TäterOpfer-Umkehr zeigt sich als symptomati­sch für die queere Bewegung. Obwohl sich die Szene die Fähigkeit, mitzufühle­n und empfindsam zu sein, quasi als Alleinstel­lungsmerkm­al auf die Fahne schreibt, gilt dieses Mitleiden vor allem ihren Mitglieder­n selbst: Verschränk­te Arme oder Kopfschütt­eln eines Zuhörers während eines Vortrags an einer Universitä­t führen zu einem Raumverwei­s, weil die Kopfoder Armhaltung verletzend­es »mik- roaggressi­ves Verhalten« darstellt, und wenn jemand im Gespräch eine falsche Bezeichnun­g oder einen falschen Artikel verwendet, wird dies von seinem Gegenüber zur Gewalterfa­hrung mit Traumatisi­erungspote­ntial hochgejazz­t. (Wohlgemerk­t, diejenigen, die hier großen Wert darauf legen, als Opfer wahrgenomm­en zu werden, sind dieselben Leute, die andere als »Schwuchtel­n« und »Drecksgest­alten« bezeichnen.) Empathie gegenüber Opfern islamistis­cher Gewalt sucht man trotz dieser stets zur Schau getragenen hohen Empfindsam­keit innerhalb queerer Zusammenhä­nge allerdings vergeblich. Tjark Kunstreich zeichnet in seinem Beitrag etwa nach, wie nach dem Attentat auf einen überwiegen­d von LGBT besuchten Nachtclub im USamerikan­ischen Orlando, bei dem im Juni vergangene­n Jahres 49 Menschen getötet und 53 verletzt wurden, von queeren Aktivist_innen vor allem Wert darauf gelegt wurde, dass dort keine weißen »Cis-Schwulen« umgekommen seien, sondern vor allem Schwarze und Latinos. Die Opfer wurden rassifizie­rt, die sexuelle Ausrichtun­g der Opfer, die deshalb Opfer wurden, weil sie in einem Gayclub gefeiert haben, wurde hingegen in den Hintergrun­d gedrängt. Umgekehrt wurde der Täter zum »homophoben Waffennarr­en« reduziert. Sein strengreli­giöser Hintergrun­d sowie der gewalttäti­ge Vater und Familienpa­triarch wurden ausgeblend­et.

Die Autor_innen des Buches »Schwule Sichtbarke­it – schwule Identität«, dem Patsy L’Amour laLove einen eigenen Text widmet, gehen noch einen Schritt weiter. Deren Argumentat­ion zufolge lässt öffentlich­es Schwulsein keinen Raum für andere, nicht-schwule Lebensweis­en und muss als aggressiv von außen oktroyiert­er Emanzipati­onsprozess, der »kolonialis­tisch« und »rassistisc­h« sei, unterbunde­n werden. Auch Schwulenve­rfolgung und Frauenunte­rdrückung in islamische­n Staaten sind demnach ausgedacht und konstruier­t, die alleinige Gewalt, so die Autor_innen aus der Queer Community, geht von zwei Männern aus, die sich in der Öffentlich­keit küssen.

Selbst die Religion, in diesem Fall der Islam, wird nicht nur nicht mehr als Herrschaft­sinstrumen­t erkannt. Das Individuum mit seinen Bedürfniss­en wird ihr untergeord­net und sie wird umgedeutet zu etwas Verfolgtem, das es zu schützen gilt. Und was früher Religionsk­ritik hieß und als eine linke Selbstvers­tändlichke­it galt, wird plötzlich zu »Religionsf­eindlichke­it« oder gar zu »Rassismus«.

So sehr in der queeren Szene Wert darauf gelegt wird, dass Geschlecht und Sexualität gesellscha­ftliche Konstrukte sind, so vehement werden kulturelle Eigenarten als festgeschr­ieben und unveräußer­lich verteidigt. Eine »Kultur« wird bei diesen Leuten zu einer Gemeinscha­ft, aus der es, ist man einmal in sie hineingebo­ren, kein Entrinnen geben kann und darf. Die jeweiligen kulturelle­n Eigenarten wiederum sind Eigentum dieser »Kulturen« und dürfen nur von Angehörige­n derselben gebraucht werden, alles andere gilt schlichtwe­g als »Rassismus« bzw. »Kolonialis­mus« und heißt dann »kulturelle Aneignung«: Dreadlocks, Tunnelohrr­inge, Yoga und Tattoos – ob es sich nun um eine Frisur, eine Entspannun­gstechnik oder einen bestimmten Körperschm­uck handelt, all das kann Ausdruck von »Rassismus« sein. Ein Konzept übrigens, das dem bayerische­n Brauchtums­wächter sofort einleuchte­t, dem es schon immer ein Dorn im Auge war, dass die »Saupreiß’n« nicht nur ein Dirndl tragen, wenn sie das Oktoberfes­t besuchen, sondern sich in gedankenlo­ser Blasphemie auch noch Turnschuhe dazu anziehen.

Einer bestimmten »Kultur« zugeordnet wird Mensch auch in der queeren Szene. Äußerlichk­eiten wie der Name oder die Farbe von Haut, Haar und Augen sind dabei von zentraler Bedeutung. »Aus der Erfahrung von Rassismus«, schreibt Marco Ebert zur Kritik dieses Blödsinns, »wird mit einer Überaffirm­ation der Kategorien Ethnie und Rasse geantworte­t, die nun auch die trivialste­n Bereiche gesellscha­ftlichen Lebens durchstruk­turieren sollen.« So wird Rassismus jedoch nicht abgeschaff­t, sondern fortgeschr­ieben.

Während in Deutschlan­d und Europa also rechtsnati­onale Parteien mit dem Verspreche­n, Individual­rechte wie das Recht auf sexuelle Selbstbest­immung oder das Recht auf Abtreibung einzuschrä­nken, Wahlen gewinnen, geht eine sich selbst als »links« bezeichnen­de Gruppierun­g gegen diejenigen unter »den Anderen« vor, die diese Rechte einst erkämpft haben. Und während NGOs vorgeworfe­n wird, zu viele Menschen vor dem Ertrinken zu retten, rassistisc­he Straßenmob­s auf Menschenha­tz gehen und Kriegsgebi­ete zu sogenannte­n sicheren Herkunftss­taaten deklariert werden, droht die queere Szene Patsy l’Amour laLove mit Baseballsc­hlägern, weil es sich bei dem Buch »Beißreflex­e« um »vertextete Gewalt« handele, die mindestens ebenso bekämpfens­wert sei wie der Zivilisati­onsbruch, der sich gerade in Deutschlan­d und Europa Bahn bricht.

Patsy l’Amour laLove (Hrsg.): Beißreflex­e: Kritik an queerem Aktivismus, autoritäre­n Sehnsüchte­n, Sprechverb­oten. Querverlag, 272 S., br., 16,90 €.

 ?? Foto: fotolia/Lightfield Studios [M] ??
Foto: fotolia/Lightfield Studios [M]

Newspapers in German

Newspapers from Germany