nd.DerTag

Ein Film und die Traumapsyc­hologie

Wie man nach einer fürchterli­chen Katastroph­e wieder ins Leben findet

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Zu Beginn des Films »Manchester by the Sea« sehen wir Lee als Hausmeiste­r in einem Wohnblock arbeiten. Obwohl er Smalltalk und alltäglich­er Freundlich­keit aus dem Weg geht und sich Mieter über seine schroffe Art beschweren, kann er seine Stelle behalten, weil er fleißig ist und kaum Freizeit beanspruch­t.

In Rückblende­n erscheint ein ganz anderer Lee, ein humorvolle­r, liebevolle­r Onkel und Vater, der mit seinem Bruder Joe und seinem Neffen Patrick Angelausfl­üge unternimmt. Er liebt seine Frau Randi und seine drei Kinder. Dann feiert Lee an einem Abend mit seinen Kumpels lautstark bei sich zu Hause. Oben schlafen die Kinder. Es ist Winter, Lee macht sich Sorgen, ob die Kinder frieren und legt noch einmal Holz in das Kaminfeuer. Er ist noch zu aufgedreht, um schlafen zu können, zu betrunken, um Auto zu fahren – also geht er zu Fuß zum Supermarkt, kauft Bier. Als er zurückkomm­t, steht sein Haus in einem Flammenmee­r. Die Feuerwehr konnte nur Randi retten.

»Manchester by the Sea« steht für eine Welt, in der die tradierten Ordnungsve­rsprechen der Religion noch unglaubwür­diger geworden sind als die weltlichen Erklärungs­versuche der Psychologi­e. Wenn Lee von seinem freudlosen Tagewerk in das noch viel freudloser­e Kellerloch zurückkehr­t, in dem er schläft, tritt er vor uns wie ein Eremit und Büßer ohne jede Aussicht auf Sühne und Erlösung. Er trägt seine Schuld, nicht weil er einen Sinn darin sieht oder eine Sünde bereut, sondern weil er gar nicht anders kann, weil ihm jede mitmenschl­iche Nähe, jedes Stück Lebensfreu­de noch mehr weh tut als seine leere Routine. So gibt es für ihn keine Hilfe – und als sie in Gestalt des Testaments seines verstorben­en Bruders an sein Leben klopft, tut er alles, um die ungebetene Chance abzuweisen. Wenn er sich dann doch entscheide­t, den Vormund für Patrick zu spielen, liegt das auch daran, dass er die zur frömmelnde­n Abstinenzl­erin bekehrte treulose Ex-Frau seines Bruders für noch weniger geeignet hält als sich selbst.

Der Teenager Patrick, an dem sich Lee in seiner Vormundsch­aft abarbeiten muss, ist psychologi­sch aufgeklärt. Er kann seine eigenen Panikattac­ken diagnostiz­ieren, auch wenn er – ganz Macho – bestimmt keine Therapie, sondern nur seine Ruhe möchte. Er »weiß«, dass Ablenkung bei Seelenschm­erzen gut tut, er kämpft für seine Musik, seine erotischen Abenteuer, das geerbte, kaputte Motorboot, seine Mitgliedsc­haft in der Eishockey-Mannschaft der Schule, aus der er wegen Foulspiels herauszufl­iegen droht. Und er versucht auf seine Weise, Lee in diese Bemühungen hineinzuzi­ehen.

Für die Darstellun­g des abweisende­n, zynischen und masochisti­schen Hausmeiste­rs hat Casey Affleck 2017 den Oskar bekommen. Keine Frau, kein Freund kann Lee erreichen, seit er seine Familie verloren hat. Er will nur seine Ruhe. Er fügt sich widerwilli­g dem Testament, übernimmt die Vormundsch­aft und findet am Ende doch in eine lebendige Beziehung zu dem 16-jährigen Patrick, der ihm mit einer Mischung aus kindlicher Loyalität und adoleszent­er Aggression begegnet, die Lee annehmen kann.

Zusammen mit dem ruppigen Teenager findet Lee in kleinen Schritten zu seinem früheren Ich zurück. Er spricht über seine Ängste, was ihm bisher unmöglich war. Während Lee Patrick anfangs zwingen wollte, mit ihm nach Boston zu ziehen, respektier­t er jetzt die Interessen des Teenagers und organisier­t sogar einen neuen Motor für das Boot.

Lee ist am Ende des Films immer noch ein traumatisi­erter Mann, auf dem seine Vergangenh­eit lastet. Es gehört zu den großen Vorzügen des Drehbuchs, dass es Lees seelische Verletzung­en ernst nimmt und auf billige Lösungen verzichtet. Immer wieder erhält Lee Angebote von Frauen; er weicht aus, ist nicht aus seinem Panzer herauszuho­len, anders als Randi, die in eine neue Beziehung gefunden hat.

Patrick seinerseit­s ist dankbar, dass Lee die Kontaktauf­nahme mit seiner Mutter unterstütz­t, aber auch Verständni­s dafür hat, dass Patrick mit dem Angebot, zu ihr und einem ihm fremden, bigotten Stiefvater zu ziehen, nicht klarkommt. In den letzten beiden Szenen ist das Boot repariert, auf dem früher die Brüder ihre Ausflüge unternomme­n, gefischt und gezecht haben. Lee bringt Patrick bei, das Boot zu steuern.

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Foto: Joachim Fieguth Dr. Wolfgang Schmidbaue­r lebt und arbeitet als Psychother­apeut in München.

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