Der antiamerikanische Traum
Die Krise der liberalen Demokratie in den USA trifft die Bedingungen der Möglichkeit einer besseren Gesellschaft – nicht nur in Amerika.
Die Vereinigten Staaten von Amerika sind das vollendetste Beispiel des modernen Staates, die reinste Form bürgerlich-kapitalistischer Gesellschaft. Was Marx erkannte, galt fortgesetzt bis in die neoliberale Epoche. Seitdem erodieren ihre materiellen Grundlagen; die ökonomische Krise scheint dauerhaft. Darüber verliert die liberale Demokratie ihren Glauben an sich selbst, die Überbauten kollabieren. Die Präsidentschaft Donald Trumps ist dafür sinnfälliges Zeichen.
Gesellschaftliche Verhältnisse, in denen jeder mit jedem und gegen jede um den Aufstieg konkurriert, sind notwendig von Kälte und Härte gekennzeichnet, noch mehr aber gilt dies für den Kampf gegen den Abstieg. Trumps Reality-Show »The Apprentice« illustrierte diesen Umschlag: Noch wurde das Publikum darüber belogen, dass ein jeder es schaffen könne; dem Sieger wurde ein Viertelmillionen-Dollar-Job versprochen. Doch war dieser befristet auf ein Jahr; der Fahrstuhl nach oben war in Wahrheit ein Paternoster, der dem siegreichen Passagier nur ganz unten wieder den Ausstieg gestattete. Dort warteten schon alle anderen: Ihnen wurde bereits im Verlauf der Sendung die Wahrheit verkündet, nämlich dass sie gefeuert seien. So werden die Subjekte mit kulturindustriellen Mitteln zugerichtet, die Macht zu affirmieren; diese Lektion ist obligatorisch; sie entspricht gesellschaftlicher Erfahrung.
Dagegen stand das Silicon Valley für die Hoffnung, dass sich der Kapitalismus nach dem Ende des Industriezeitalters durch technologische Innovation noch einmal in Prosperität retten könne. Den Stakeholdern mag das leidlich gelungen sein. Auch trägt nahezu jeder heute die Elektronik an Ohr und Handgelenk. Doch das Valley ist klein, nur wenige amerikanische Ingenieure ersinnen die Produkte, kaum ein amerikanischer Arbeiter baut sie zusammen. Es tröstet sie kein neues i-Phone, immer mehr Menschen müssen am alten Elektroschrott festhalten, weil sie sich den neuen nicht leisten können. Nur heißt Partizipation im Kapitalismus immer zuvörderst Partizipation am Konsum. Wer davon ausgeschlossen wird, reagiert gekränkt und irrational. Als Massenphänomen wird aus dem ökonomischen Elend ein politisches Desaster.
So sieht das Land, in dem der optimistische Blick nach vorn stets zum Imperativ gereichte, jetzt nostalgisch auf das Industriezeitalter zurück. Doch so wenig es in Europa eine gelingende Rückkehr nach Reims gibt, wie von Didier Eribon versucht, so wenig sind in Detroit noch einmal gutbezahlte Industrie-Jobs in hinreichender Zahl wahrscheinlich. Doch genau das verspricht der Protektionismus des neuen Präsidenten, der dem vieler Linker ähnelt, weshalb sich bei den Sanders dort und den Wagenknechts hier gewisse Distinktionsschwierigkeiten offenbaren. Den Opfern des globalen Neoliberalismus bietet Trump einen Neoliberalismus in einem Land an: Abriegelung nach außen, Deregulierung nach innen. Dies ist die vorerst letzte Option und im Rahmen des Bestehenden nachgerade alternativlos: Es wird ein gesellschaftlicher Kompromiss vorgeschlagen, der den Unmut der unteren und mittleren Schichten ins Ressentiment ableitet und dem vermögenden Rest wieder mehr Kapitalakkumulation in Aussicht stellt. Nachdem die Amerikaner ihre Wahlentscheidung trafen, signalisiert die Entwicklung des Dow Jones, dass der Kompromiss fürs Erste trägt.
Amerika ist die fortgeschrittenste Beobachtungsposition, auch mit Blick auf Europa, wie Adorno im Resümee seiner Erfahrungen in den USA feststellte, denn dort findet sich Kapitalismus in vollkommener Reinheit, ohne Restbestände. Es ist noch heute Vorschein aller westlichen Gesellschaften. Wenn nun gerade hier die demokratischen Formen – im individuellen Bewusstsein wie in den gesellschaftlichen Institutionen – erodieren, wo sie bislang so substanziell wie nirgendwo sonst waren, dann erfüllt sich der antiamerikanische Traum reaktionärer Rechter wie regressiver Linker, die seit je das Glücksversprechen denunzieren, weil ihnen dessen Materialismus nicht behagt, die sich seit je gegen die liberale Demokratie richten, weil diese vorgibt, das Individuum nicht im Zwangskollektiv aufund das heißt untergehen zu lassen.
Die Gefahr des Umschlags in autoritäre Herrschaft liegt in der Tendenz moderner Gesellschaften. Sie liegt dabei weniger in einer konkreten Person, die sich angesichts objektiver gesellschaftlicher Malaise als Volkstribun anbietet, als im Bedürfnis breiter Bevölkerungsschichten nach einem Rienzi. Der faschistische Agitator richtet seine Stimuli dabei auf eine Mentalität, die er nicht erst erzeugt, sondern die er lediglich noch anzusprechen braucht. Rekapituliert man Leo Löwenthals amerikanische Studien zu den »Falschen Propheten« (1948), so finden sich inhaltliche und formale Momente Trumps: die Adressierung der von Eliten betrogenen Massen, das Verwischen rationaler Demarkationen, die Bestärkung der Desorientierung, die Behauptung der Wiederherstellung alter Größe, die Drohungen gegen politische Gegner, die Wiederholungen, Beschimpfungen und Beleidigungen, die Komplizenschaft mit dem Publikum bis hin zur Kollaboration. Die Bewegung lässt sich auf ihren Tribunen einschwören. Nicht die objektiven gesellschaftlichen Ursachen der Malaise werden verhandelt, sondern über das subjektive Unbehagen werden persönlich verantwortliche Feinde ausgemacht. Der Agitator bietet an, sich dieser Feinde anzunehmen und mit ihnen auch die Krise auszuschalten. Dabei lässt sich auch solch ein Verächter der liberalen Demokratie für sein Unterfangen gern demokratisch legitimieren.
Deswegen sind die USA heute kein faschistisches Land. Die demokratischen Institutionen, die Checks and Balances stehen dagegen. Es sind nicht zufällig einige Konservative, die mit größter Glaubwürdigkeit in Opposition treten: John McCain zum Beispiel oder Lindsay Graham. ExPräsident George W. Bush verlautbarte jüngst, er möge den Rassismus und die Beschimpfungen nicht, und er verwies auf das politische Desaster, das über die USA hinausreicht: »Es ist ziemlich schwierig, anderen zu sagen, sie brauchten eine unabhängige, freie Presse, wenn wir nicht selbst bereit sind, eine solche zu akzeptieren.« Die USA waren stets eine Realutopie, eine Referenz für liberale Menschen aus aller Welt in ihren politischen Kämpfen gegen die Tyrannei: für Demokratie und Rechtsstaatlichkeit, für Gewaltenteilung und freie Presse, für den Traum vom Wohlstand. So sehr solche Kämpfe die Vorgeschichte nicht zu überschreiten vermögen, so verheerend ist doch der Ausfall der amerikanischen Realutopie als Bedingung der Möglichkeit eines Besseren in künftiger Geschichte. Stattdessen sich an Europa zu orientieren, ist unsinnig: Europe is gone.
Im Erfolg Trumps spiegelt sich das Scheitern der Obama-Administrati- on, denn nach acht Jahren im Weißen Haus ist der soziale Niedergang eskaliert. Partikulare Fortschritte beispielsweise in der Minderheitenpolitik stehen im übermächtigen Schatten fortschreitender Deindustrialisierung und Prekarisierung: Die Erwerbsquote ist um mehr als 4 Prozent gesunken, 3,5 Prozent mehr Menschen leben unter der Armutsgrenze, das durchschnittliche Haushaltseinkommen sank um 2,3 Prozent, 46 Millionen Menschen sind heute auf Lebensmittelmarken angewiesen. Zugleich regredierten die USA außenpolitisch zu gefährlicher Irrelevanz. Wenn auch noch die USAmerikaner europäische Außenpolitik betreiben – also Kulturrelativismus und Appeasement bestimmend sind –, dann profitieren davon Despoten wie Putin, dann geht das Morden in Syrien weiter, dann werden Verbündete wie Israel düpiert und in existenzielle Gefahr gebracht, dann werden Terrorregime wie in Teheran hofiert.
Das Scheitern Obamas ist ein Scheitern der US-amerikanischen Linken. Dieses führt kaum zu kritischer Reflexion – es setzt sich vielmehr fort. Als am 21. Januar 2017 landesweit mehr als eine Million Menschen zu Protestmärschen gegen den rassistischen und frauenfeindlichen neuen Präsidenten zusammenfanden, wurde als einer der wesentlichen Köpfe dieses »Woman’s March« Linda Sarsour gefeiert, die Obama schon als »Champion of Change« ehrte. Und sie steht für »Change« – für Veränderung zum Schlechteren: Ihre politischen Aktivitäten reichen von der Solidarisierung mit antiisraelischen Terroristen über die Salvierung der Sharia und des Jihad bis hin zur misogynen Denunzierung renegater Ex-Musliminnen wie Ayaan Hirsi Ali: »Ich wünschte, ich könnte deren Vaginas herausnehmen – sie verdienen es nicht, Frauen zu sein.« Als eben diese Sarsour zu den Protestierenden in Washington sprach, eröffnete sie mit »Salam Aleikum!« Kultursensibel wurde sie von Hunderttausenden beklatscht. So verrät die real existierende Linke die Emanzipation. Gegen das Falsche steht das Falsche.
Auch wenn die Verhältnisse derart verrammelt scheinen: Amerika war immer ein extremes Land, aber es hat sich nie lang an den Extremen aufgehalten. Soviel Hoffnung bleibt immerhin.