Flaschenpost in stürmischer See
An der Uni Hannover wurde kürzlich das Fach Sozialpsychologie abgewickelt. Das ist kein Einzelfall: Bundesweit verabschiedeten sich in den vergangenen Jahren die Universitäten von der Tradition der kritischen Gesellschaftstheorie.
Noch in den 1990er Jahren hatte es diverse Professuren für psychoanalytische Sozialpsychologie in Deutschland gegeben, jetzt existiert nur noch eine einzige an einer staatlichen Hochschule.
Am 4. Februar 2017 vollzog sich in der niedersächsischen Landeshauptstadt Hannover, von der bundesdeutschen Öffentlichkeit nahezu unbemerkt, ein trauriger Akt: Mit dem Ausscheiden des psychoanalytischen Sozialpsychologen Rolf Pohl, der mit 65 Jahren als Professor in den Ruhestand ging, endete eine 50-jährige Tradition kritischer Gesellschaftstheorie an dieser Universität, die in ihrer Bedeutung weit über sie hinaus weist.
1967 hatte der Psychoanalytiker Peter Brückner einen Lehrstuhl für Psychologie an der damaligen TU Hannover übernommen; Brückner mischte sich damals intensiv in die Debatten rund um 1968 ein und unterstützte den SDS und die Studierendenbewegung. Brückners Blickwinkel war kein individual-, sondern ein dezidiert sozialpsychologischer, er formulierte eine psychoanalytisch fundierte Politische Psychologie, die die Zusammenhänge zwischen Individuum, Gesellschaft, Staat und Geschichte je aktuell zu analysieren hat- te: »Die politische Psychologie lebt von der Idee des Zusammenhangs zwischen der Lebensgeschichte der einzelnen Individuen und dem, was sie sich geschichtlich antun.«
Einige von Brückners Büchern wurden damals zu »Pflichtlektüren« der westdeutschen Linken, so das gemeinsam mit Johannes Agnoli verfasste »Die Transformation der Demokratie« (1967), später die »Sozialpsychologie des Kapitalismus« (1974) und der »Versuch, uns und anderen die Bundesrepublik zu erklären« (1978).
Doch er wurde für seine Positionen angefeindet. 1972 war ihm erstmals die Ausübung seiner Lehrtätigkeit für zwei Semester untersagt worden, der Vorwurf lautete Unterstützung der RAF. Brückner wurde in einem eintägigen Prozess wegen Beherbergung der gesuchten Ulrike Meinhof zu einer Geldstrafe von 4800 Mark verurteilt, ein relativ mildes Urteil. Doch es handelte sich um einen »Freispruch zweiter Klasse«, Brückner blieb in konservativen Kreisen verhasst und wurde etwa im August 1972 zusammen mit anderen linken Professoren und Autoren als »geistiger Bombenwerfer« tituliert.
Schon 1977 wurde er erneut suspendiert – und diesmal sollte er nicht mehr an die Universität zurückkehren. Brückner war Teil der »Mescalero-Affäre« geworden, er hatte mit anderen einen in einer Göttinger Studierendenzeitschrift abgedruckten Nachruf auf den von der RAF ermordeten Generalbundesanwalt Buback zur öffentlichen Diskussion dokumentiert, der von Medien, Hochschulleitungen und Politiker als Gutheißung der Tat propagiert wurde. Es gab eine regelrechte Kampagne gegen die Herausgeber als »Lobredner des Terrors«. Brückners Suspendierung (er hatte sich als einziger nicht von der Publikation distanziert) wurde erst nach vierjähriger gerichtlicher Überprüfung 1981 aufgehoben, ein Jahr vor seinem Tod.
Brückner, zu seinen Lebzeiten einer der wichtigsten linken westdeut- schen Intellektuellen, für dessen Rehabilitierung unter anderem Michel Foucault damals im beschaulichen Hannover demonstrierte, ist heute nahezu in Vergessenheit geraten. Doch er hatte in Hannover einen bleibenden, wegweisenden Ansatz einer kritischen, psychoanalytischen Sozialpsychologie begründet, und, zunächst zwangsweise, auch außerhalb der Hochschule doziert und Seminare gegeben, in Cafés, Kneipen. Das Psychologische Seminar an der hannoverschen Universität war durch diese kritische Vermittlung subjekt- und gesellschaftstheoretischer Perspektiven gekennzeichnet. Nach (und parallel zu) Brückner wurde dies fortgesetzt durch u.a. Alfred Krovoza, Rolf Pohl sowie Regina Becker-Schmidt und Gudrun Axeli Knapp mit deren Geschlechterforschungsansatz, der die Kritische Theorie kritisch reflektiert und weiterentwickelt. Dass mit der Abwicklung und »Umwidmung« der Geschlechterforschungsprofessur zugleich die letzte ordentliche Sozial- psychologie-Professur gestrichen wurde, ist daher kein Zufall.
Noch in den 1990er Jahren hatte es diverse Professuren für psychoanalytische Sozialpsychologie in Deutschland gegeben, jetzt existiert nur noch eine einzige an einer staatlichen Hochschule, die Professur von Vera King an der Goethe-Universität Frankfurt am Main. An der privaten IPU Berlin gibt es überdies eine Professur für psychoanalytische Sozialpsychologie und Sozialpsychiatrie.
Dieses erzwungene Ende einer kritischen Wissenschaftsperspektive kommt zu einer Unzeit, die um so irritierender erscheinen muss, als die Forschungsschwerpunkte Pohls und seiner Mitarbeiter – Rechtspopulismus, Rechtsextremismus, Antisemitismus, Vergangenheitsaufarbeitung, Täterforschung, Trauma, Gewalt, Männlichkeits- und Geschlechterforschung – gerade heute in großem Ausmaß wieder international in Erscheinung treten und gerade eine psychoanalytisch orientierte Sozialpsychologie einen nicht zu unterschätzenden Beitrag zum Verständnis von deren gesellschaftlichen und subjektiven Bedingungen und zudem angemessener gesellschaftlicher Reaktionen leisten kann – oder könnte, wenn man sie ließe.
Zeitgleich zum (fast) institutionellen Ende der psychoanalytischen Sozialpsychologie existiert ein bleibendes und viel neues Interesse am Ansatz. So hatte sich 2008, auch als Widerstandsakt, in Hannover eine Arbeitsgemeinschaft Politische Psychologie gegründet, die das Brücknersche Erbe in Erinnerung hält und weiterentwickelt. 2012 veranstaltete die Neue Gesellschaft für Psychologie eine Tagung unter dem Titel »Sozialpsychologie des Kapitalismus – Zur Aktualität Peter Brückners« und viele weitere Gruppen beziehen psychoanalytisch-sozialpsychologische Perspektiven mit ein; im letzten Jahr kam es schließlich zur Gründung der Gesellschaft für psychoanalytische Sozialpsychologie, eben um den vielerorts versprengten Akteuren ein Austauschforum, institutionelle Möglichkeiten und öffentliche Sichtbarkeit zu verschaffen. Es stimmt hoffnungsvoll, dass diesen Initiativen von einer großen Zahl Studierender mitgetragen werden.
Wenn es nun immer wieder heißt, die Wissenschaft habe den Beginn des populistischen Zeitalters und Rechtsrucks verschlafen, kann nur entgegnet werden, dass die psychoanalytische Sozialpsychologie sich seit Erich Fromms frühen Studien fortwährend genau mit diesem Thema beschäftigt. Doch nicht immer wollte man »mit ihr etwas zu tun haben, sie verhallt ungehört, ohne Echo« (Adorno). Diese Flaschenpost wieder zu entdecken, bleibt gesellschaftliche Aufgabe.