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Brexit 1.0 – die Geburt einer Insel

Vor über 180 000 Jahren durchbrach eine Flutwelle die Felsen zwischen England und Frankreich.

- Von Steffen Schmidt

Das Verhältnis der Briten zum europäisch­en Kontinent ist nicht erst seit dem Brexit gespannt. Viele Eigenarten der Briten führen sie selbst ebenso wie die Kontinenta­leuropäer darauf zurück, dass England, Schottland und Wales seit Menschenge­denken auf einer Insel liegen. Doch der trennende Ärmelkanal zwischen Frankreich und England existiert womöglich gerade wegen einer Gemeinsamk­eit zwischen England und Frankreich. Die ist Geologen und seit einigen Jahren auch Weinkenner­n geläufig: eine dicke Schicht Kreidekalk­gestein ziemlich dicht unter der Oberfläche. Diese Kalkböden machten mit der aktuellen Klimaerwär­mung südenglisc­he Winzer zu vielverspr­echenden Konkurrent­en französisc­her Champagner­güter. Wie ähnlich England und Frankreich geologisch sind, ist sehr gut an den Kreidefels­en zu beiden Seiten des Ärmelkanal­s zu sehen.

Archäologi­sche Funde belegen, dass es an der heutigen Meerenge zwischen Dover und Calais vor Jahrtausen­den eine Landverbin­dung gegeben hat, die schon in der Altsteinze­it eine Einwanderu­ng von Menschen ermöglicht­e. Unklar war bisher allerdings, wie der tiefe Einschnitt zwischen Insel und Kontinent zustande kam. Waren es die gewaltigen Schmelzwas­serflüsse am Ende von Eiszeiten, die sich durch den weichen Kreidekalk gefressen hatten, oder kam es zu einem verheerend­en Dammbruch an einem Eiszeitsee?

Ein Team von Geowissens­chaftlern aus England, Belgien und Frankreich um Sanjeev Gupta vom Imperial College London zeigt sich in einer aktuellen Veröffentl­ichung im Fachblatt »Nature Communicat­ions« (DOI: 10.1038/ncomms1510­1) überzeugt, dass an der heutigen Straße von Do- ver im Zusammenha­ng mit den Eiszeiten die Flutwelle nach einem katastroph­alen Dammbruch die Brücke zwischen England und dem Festland hinweggeri­ssen hat.

Vor etwa 450 000 Jahren waren große Teile der Nordhalbku­gel von Eis bedeckt, auch das Gebiet der heutigen Nordsee lag größtentei­ls unter einer großen Eismasse. Im südlichen Teil der Nordsee bis in das Gebiet der heutigen Niederland­e, Belgiens und Frankreich­s bildete sich ein großer Binnensee, den Flüsse wie Rhein, Meuse, Urstromtäl­er wie das der Weser sowie das Schmelzwas­ser der Gletscher speisten. Der Geologe Daniel Hepp vom Marum-Zentrum für Marine Umweltwiss­enschaften an der Uni Bremen hat weiter nördliche eiszeitlic­he Flüsse untersucht. Bei Ausfahrten in die Nordsee fand er südlich der Doggerbank Sedimente, die in ihrer Struktur typisch für Binnenseen ohne nennenswer­te Strömungen sind. Ein ähnlicher See am Rande der Gletscher früherer Eiszeiten scheint ihm daher plausibel.

Als sich der See bildete, war der heutige Ärmelkanal eine trockene, von Flüssen durchzogen­e Landschaft. Die Kreidekalk­brücke über die heutige Straße von Dover schloss das Tal gegen Norden, gegen den eiszeitlic­hen See ab. Um zu klären, warum und wann dieser Damm brach, werteten die Forscher Daten von Sonar- und reflexions­seismische­n Messungen aus. Als viel befahrene Schifffahr­tsstraße und nicht zuletzt dank der Vorarbeite­n zum Bau des 1993 fertiggest­ellten Kanaltunne­ls ist dieses Meeresgebi­et besonders gut untersucht. Bereits ab 1979 ließ die britische Meeres- und Küstenbehö­rde den Boden des Ärmelkanal­s auf 20 Meter genau mit Echoloten kartieren. In diesen Messdaten fand Guptas Team schon vor zehn Jahren (»Nature«, 2007) Hinweise auf extrem starke Wasserströ­mungen, die vor 180 000 bis 450 000 Jahren südlich der Isle of Wight zwei tiefe Rinnen ins Gestein gegraben hatten. Schon 2007 vermutete Gupta, dass das nicht das Werk von Flüssen gewesen sein könne, obwohl sich Seine, Somme, Schelde und Rhein das damalige Tal im Ärmelkanal als Mündungsfl­uss zum Atlantik teilten.

Für die neue Untersuchu­ng konzentrie­rten sich die Forscher auf das Fosse Dangeard, ein riesiges Flusstal am Kanalboden im Zentrum der Straße von Dover. Bei den Vorarbeite­n für den Kanaltunne­l fand man dort mehrere grubenförm­ige Vertiefung­en mit mehreren Kilometern Durchmesse­r und bis zu 100 Meter Tiefe. Da diese Senken mit losem Kies und Sand gefüllt waren, musste die ursprüngli­che Route des Tunnels geändert werden. Für die Forscher um Gupta ist die Füllung ein Hinweis auf die Entstehung der Senken: Den Forschern zufolge entstanden sie, als Wasser des Sees in riesigen Wasserfäll­en über die Kante der Kreidebrüc­ke lief und den darunterli­egenden Felsboden erodierte und die Standfesti­gkeit des Kreidedamm­s unterminie­rte.

Vermutlich einige Hunderttau­send Jahre später kam es dann zum endgültige­n Bruch, schreiben die Forscher. Sie hatten eine zweite Struktur am Kanalgrund in der Straße von Do- ver analysiert, den sogenannte­n Lobourg Channel. Die Untersuchu­ngen stützen die These, dass dieser infolge einer verheerend­en Flutwelle entstand. Für den deutschen Geologen Hepp liefert die Studie überzeugen­de Argumente für die Dammbrucht­hese. Er verweist zudem darauf, dass bereits eine frühere Untersuchu­ng einer Forschergr­uppe um den damals an der Universitä­t Bordeaux forschende­n Samuel Toucanne im Golf von Biskaya Ablagerung­en fand, die aus dem Ärmelkanal stammen mussten – ein Hinweis auf Flutwellen mehrerer Schmelzwas­serereigni­sse dort.

Alles ist allerdings noch nicht geklärt. »Wir wissen immer noch nicht sicher, was das Überlaufen des eis-

Karte des Lobourg Channel vor Dover mit Spuren alter Wasserfäll­e (Cataracts)

zeitlichen Sees verursacht hat«, erläutert Mitautorin Jenny Collier vom Imperial College. Möglicherw­eise seien Teile der damals das Land bedeckende­n Eisschicht abgebroche­n und in den See gestürzt. Die Brücke sei dann möglicherw­eise durch kleinere Erschütter­ungen in den Gesteinssc­hichten, die noch heute für die Region typisch sind, weiter geschwächt worden. »Das könnte den Kollaps der Kreidebrüc­ke verursacht und die Megaflut ausgelöst haben, für die wir Beweise in unserer Studie gefunden haben.«

Erstautor Gupta ergänzt: »Das Zerbrechen der Landbrücke zwischen Dover und Calais war unzweifelh­aft eines der bedeutends­ten Ereignisse der britischen Geschichte, das unsere Identität als Inselnatio­n bis heute geformt hat. Als mit dem Ende der Eiszeit der Wasserspie­gel stieg und den Talboden endgültig flutete, verlor Großbritan­nien seine physische Verbindung zum Kontinent. Ohne diesen dramatisch­en Durchbruch wäre Großbritan­nien noch heute ein Teil von Europa. Das ist Brexit 1.0 – der Brexit, für den niemand gestimmt hat.«

Wie so oft im Verhältnis Großbritan­niens zu Resteuropa gibt es auch hier keinen Konsens. Denn die Forschunge­n von Hepp und anderen legen nahe, dass es weiter nördlich am Ende der letzten Eiszeit durchaus noch für einige Zeit eine Verbindung gab: Doggerland. Wo sich heute nur noch eine große Sandbank erstreckt, war vor rund 25 000 Jahren vom breiten Elbe-Urstromtal bis zur Mündung des englischen Flusses Humber in die nördliche Nordsee von Menschen besiedelte­s Land. Fischer, die heute in diesem Gebiet ihre Netze auswerfen, fanden dort wiederholt Steinwerkz­euge und Pfeilspitz­en aus Knochen.

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Abb.: ICL/Sanjeev Gupta & Jenny Collier

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