Brexit 1.0 – die Geburt einer Insel
Vor über 180 000 Jahren durchbrach eine Flutwelle die Felsen zwischen England und Frankreich.
Das Verhältnis der Briten zum europäischen Kontinent ist nicht erst seit dem Brexit gespannt. Viele Eigenarten der Briten führen sie selbst ebenso wie die Kontinentaleuropäer darauf zurück, dass England, Schottland und Wales seit Menschengedenken auf einer Insel liegen. Doch der trennende Ärmelkanal zwischen Frankreich und England existiert womöglich gerade wegen einer Gemeinsamkeit zwischen England und Frankreich. Die ist Geologen und seit einigen Jahren auch Weinkennern geläufig: eine dicke Schicht Kreidekalkgestein ziemlich dicht unter der Oberfläche. Diese Kalkböden machten mit der aktuellen Klimaerwärmung südenglische Winzer zu vielversprechenden Konkurrenten französischer Champagnergüter. Wie ähnlich England und Frankreich geologisch sind, ist sehr gut an den Kreidefelsen zu beiden Seiten des Ärmelkanals zu sehen.
Archäologische Funde belegen, dass es an der heutigen Meerenge zwischen Dover und Calais vor Jahrtausenden eine Landverbindung gegeben hat, die schon in der Altsteinzeit eine Einwanderung von Menschen ermöglichte. Unklar war bisher allerdings, wie der tiefe Einschnitt zwischen Insel und Kontinent zustande kam. Waren es die gewaltigen Schmelzwasserflüsse am Ende von Eiszeiten, die sich durch den weichen Kreidekalk gefressen hatten, oder kam es zu einem verheerenden Dammbruch an einem Eiszeitsee?
Ein Team von Geowissenschaftlern aus England, Belgien und Frankreich um Sanjeev Gupta vom Imperial College London zeigt sich in einer aktuellen Veröffentlichung im Fachblatt »Nature Communications« (DOI: 10.1038/ncomms15101) überzeugt, dass an der heutigen Straße von Do- ver im Zusammenhang mit den Eiszeiten die Flutwelle nach einem katastrophalen Dammbruch die Brücke zwischen England und dem Festland hinweggerissen hat.
Vor etwa 450 000 Jahren waren große Teile der Nordhalbkugel von Eis bedeckt, auch das Gebiet der heutigen Nordsee lag größtenteils unter einer großen Eismasse. Im südlichen Teil der Nordsee bis in das Gebiet der heutigen Niederlande, Belgiens und Frankreichs bildete sich ein großer Binnensee, den Flüsse wie Rhein, Meuse, Urstromtäler wie das der Weser sowie das Schmelzwasser der Gletscher speisten. Der Geologe Daniel Hepp vom Marum-Zentrum für Marine Umweltwissenschaften an der Uni Bremen hat weiter nördliche eiszeitliche Flüsse untersucht. Bei Ausfahrten in die Nordsee fand er südlich der Doggerbank Sedimente, die in ihrer Struktur typisch für Binnenseen ohne nennenswerte Strömungen sind. Ein ähnlicher See am Rande der Gletscher früherer Eiszeiten scheint ihm daher plausibel.
Als sich der See bildete, war der heutige Ärmelkanal eine trockene, von Flüssen durchzogene Landschaft. Die Kreidekalkbrücke über die heutige Straße von Dover schloss das Tal gegen Norden, gegen den eiszeitlichen See ab. Um zu klären, warum und wann dieser Damm brach, werteten die Forscher Daten von Sonar- und reflexionsseismischen Messungen aus. Als viel befahrene Schifffahrtsstraße und nicht zuletzt dank der Vorarbeiten zum Bau des 1993 fertiggestellten Kanaltunnels ist dieses Meeresgebiet besonders gut untersucht. Bereits ab 1979 ließ die britische Meeres- und Küstenbehörde den Boden des Ärmelkanals auf 20 Meter genau mit Echoloten kartieren. In diesen Messdaten fand Guptas Team schon vor zehn Jahren (»Nature«, 2007) Hinweise auf extrem starke Wasserströmungen, die vor 180 000 bis 450 000 Jahren südlich der Isle of Wight zwei tiefe Rinnen ins Gestein gegraben hatten. Schon 2007 vermutete Gupta, dass das nicht das Werk von Flüssen gewesen sein könne, obwohl sich Seine, Somme, Schelde und Rhein das damalige Tal im Ärmelkanal als Mündungsfluss zum Atlantik teilten.
Für die neue Untersuchung konzentrierten sich die Forscher auf das Fosse Dangeard, ein riesiges Flusstal am Kanalboden im Zentrum der Straße von Dover. Bei den Vorarbeiten für den Kanaltunnel fand man dort mehrere grubenförmige Vertiefungen mit mehreren Kilometern Durchmesser und bis zu 100 Meter Tiefe. Da diese Senken mit losem Kies und Sand gefüllt waren, musste die ursprüngliche Route des Tunnels geändert werden. Für die Forscher um Gupta ist die Füllung ein Hinweis auf die Entstehung der Senken: Den Forschern zufolge entstanden sie, als Wasser des Sees in riesigen Wasserfällen über die Kante der Kreidebrücke lief und den darunterliegenden Felsboden erodierte und die Standfestigkeit des Kreidedamms unterminierte.
Vermutlich einige Hunderttausend Jahre später kam es dann zum endgültigen Bruch, schreiben die Forscher. Sie hatten eine zweite Struktur am Kanalgrund in der Straße von Do- ver analysiert, den sogenannten Lobourg Channel. Die Untersuchungen stützen die These, dass dieser infolge einer verheerenden Flutwelle entstand. Für den deutschen Geologen Hepp liefert die Studie überzeugende Argumente für die Dammbruchthese. Er verweist zudem darauf, dass bereits eine frühere Untersuchung einer Forschergruppe um den damals an der Universität Bordeaux forschenden Samuel Toucanne im Golf von Biskaya Ablagerungen fand, die aus dem Ärmelkanal stammen mussten – ein Hinweis auf Flutwellen mehrerer Schmelzwasserereignisse dort.
Alles ist allerdings noch nicht geklärt. »Wir wissen immer noch nicht sicher, was das Überlaufen des eis-
Karte des Lobourg Channel vor Dover mit Spuren alter Wasserfälle (Cataracts)
zeitlichen Sees verursacht hat«, erläutert Mitautorin Jenny Collier vom Imperial College. Möglicherweise seien Teile der damals das Land bedeckenden Eisschicht abgebrochen und in den See gestürzt. Die Brücke sei dann möglicherweise durch kleinere Erschütterungen in den Gesteinsschichten, die noch heute für die Region typisch sind, weiter geschwächt worden. »Das könnte den Kollaps der Kreidebrücke verursacht und die Megaflut ausgelöst haben, für die wir Beweise in unserer Studie gefunden haben.«
Erstautor Gupta ergänzt: »Das Zerbrechen der Landbrücke zwischen Dover und Calais war unzweifelhaft eines der bedeutendsten Ereignisse der britischen Geschichte, das unsere Identität als Inselnation bis heute geformt hat. Als mit dem Ende der Eiszeit der Wasserspiegel stieg und den Talboden endgültig flutete, verlor Großbritannien seine physische Verbindung zum Kontinent. Ohne diesen dramatischen Durchbruch wäre Großbritannien noch heute ein Teil von Europa. Das ist Brexit 1.0 – der Brexit, für den niemand gestimmt hat.«
Wie so oft im Verhältnis Großbritanniens zu Resteuropa gibt es auch hier keinen Konsens. Denn die Forschungen von Hepp und anderen legen nahe, dass es weiter nördlich am Ende der letzten Eiszeit durchaus noch für einige Zeit eine Verbindung gab: Doggerland. Wo sich heute nur noch eine große Sandbank erstreckt, war vor rund 25 000 Jahren vom breiten Elbe-Urstromtal bis zur Mündung des englischen Flusses Humber in die nördliche Nordsee von Menschen besiedeltes Land. Fischer, die heute in diesem Gebiet ihre Netze auswerfen, fanden dort wiederholt Steinwerkzeuge und Pfeilspitzen aus Knochen.