Alle Macht den Sowjets!
Als Wladimir Iljitsch Lenin seine Aprilthesen verkündete.
Er schätzte die Präzision der deutschen Eisenbahn und nutzte sie für seine Rückkehr nach Russland. Nur zuschauen und auf das Reifen der Revolution zu hoffen, wäre für ihn Verrat an jenen gewesen, die gerade den Zaren gestürzt hatten und weitergehende Erwartungen hegten. Lenin fuhr im April 1917 in das damals freieste Land der Welt, in dem es aber noch mehr als Freiheit und Demokratie zu erstreiten galt, nämlich Frieden, Brot, Land und nationale Selbstbestimmung der Völker.
Der Führer der Bolschewiki hatte das Zwangsexil zu programmatischer und taktischer Vorarbeit für den revolutionären Kampf genutzt. In Petrograd angekommen, war er wieder in seinem Element. »Von der Spitze des Panzerwagens aus musste Lenin beinahe an jeder Kreuzung seine ›Litanei vorbeten‹ und sich mit immer neuen Reden an immer neue und neue Volksmassen wenden. Die Prozession bewegte sich nur langsam. Der Triumph gelang glänzend und war sogar fast symbolisch«, notierte ein Zeitgenosse.
Einen Tag nach seiner Ankunft in Petrograd, am 4. (17.) April 1917, trat Lenin mit seinem Revolutionskonzept vor die Sowjetdelegierten der Bolschewiki und Menschewiki. Manche Menschewiki meinten, Lenin predige im »Fieberwahn« anarchistische Parolen. Selbst einige seiner bolschewistischen Genossen wie Lew Kamenew distanzierten sich: »Was das allgemeine Schema des Genossen Lenin anbelangt, so halten wir es für unannehmbar, insoweit es davon ausgeht, dass die bürgerlich-demokratische Revolution abgeschlossen sei, und insoweit es auf die sofortige Umwandlung dieser Revolution in eine sozialistische berechnet ist.« Viele ehemalige Kampfgefährten vermuteten, Lenin habe im Exil den Bezug zur Realität verloren. Aber er war nur konsequent in seiner Analyse des russischen Kapitalismus, der Schwäche der Bourgeoise und deren Regierung, der Unentschlossenheit der Linken und der Tiefe der Krise. Er erkannte die realen Bedürfnisse der Massen, wertete die massenhaften Desertationen aus der Armee, die begonnene, teils gewaltsame Aneignung des Bodens durch Bauern und Landlose, die Forderungen der Ar- beiter in den Fabriken und die Erfolge der basisdemokratischen Sowjets folgerichtig. Sollten Linke der Geschichte hinterherlaufen oder sie lenken?
In seiner Rede, bekannt geworden als die »Aprilthesen«, bekräftigte Lenin den strikten Antikriegskurs, der für ihn jetzt ein Revolutionskurs war. Ohne eine sozialistische Revolution sei angesichts der weiteren Kriegsführung der Provisorischen Regierung und der sie unterstützenden linken Politiker kein Frieden ohne Annexionen zu bekommen. Darum müsse aufgeklärt werden »über den untrennbaren Zusammenhang von Kapital und imperialistischem Krieg ..., muss man den Nachweis führen, dass es ohne den Sturz des Kapitals unmöglich ist, den Krieg durch einen wahrhaft demokratischen Frieden und nicht durch einen Gewaltfrieden zu beenden«.
Im Unterschied zur vorherrschenden linken Auffassung über al- le Parteigrenzen hinweg verlangte er, die gegenwärtige bürgerlich-demokratische Revolution weiterzutreiben. Die Bourgeoisie kann nicht führen und das Proletariat müsse nun aus der Rolle des Helfers heraus sich für die eigenen Interessen organisieren, um gemeinsam mit den ärmsten Schichten der Bauernschaft in einer zweiten Etappe der Revolution die Macht zu erlangen. Die bisher erreichten demokratischen Freiheiten böten dafür die idealen Voraussetzungen.
Die Provisorische Regierung sei zu entlarven und zu bekämpfen. Denn sie vertrete die Interessen des Kapi- tals und der Entente, nicht die der arbeitenden Massen, so Lenin. Es gebe bereits demokratischen Alternativen: die Sowjets. Da die Bolschewiki in ihnen noch in der Minderheit seien, müsse um mehr Einfluss gerungen werden. Die Massen seien darüber aufzuklären, »dass die Sowjets der Arbeiterdeputierten die einzig mögliche Form der revolutionären Regierung sind«. Arbeiter, Bauern und Soldaten hätten die Macht zu ergreifen – in und mit den Sowjets. »Alle Macht den Sowjets!« sollte daher die Losung sein.
Lenin schockierte alle. Er forderte nichts weniger als die Zerschlagung des alten bürgerlichen Staatsapparates und eine völlig neue Form von Demokratie: keine parlamentarische Republik, sondern eine Republik der Sowjets der Arbeiter-, Landarbeiterund Bauerndeputierten im ganzen Lande, von unten bis oben. Polizei, Armee, Beamtenschaft seien abzuschaffen. Und: »Entlohnung aller Beamten, die durchweg wählbar und jederzeit absetzbar sein müssen, nicht über den Durchschnittslohn eines guten Arbeiters hinaus.«
Angesichts der Stimmung im Land verabschiedete sich Lenin auch in der Agrarfrage von akademischen marxistischen Interpretationen. Durchaus in Übereinstimmung mit Ideen der Sozialrevolutionäre versprach er ein radikales Agrarprogramm für die Bauern, mit Schwerpunkt auf Landarbeiter und Besitzlose: »Konfiskation aller Gutsbesitzerländereien« und »Nationalisierung des gesamten Bodens im Lande«. Auf seiner Agenda stand zwar nicht die Verstaatlichung der Wirtschaft und auch noch nicht die Einführung des Sozialismus als »unmittelbare Aufgabe, sondern augenblicklich nur Übergang zur Kontrolle über die gesellschaftliche Produktion und die Verteilung der Erzeugnisse durch den Sowjet der Arbeiterdeputierten«. Um dies zu erreichen setzte Lenin auf die Reorganisation der Partei zu einer kommunistischen, auf den Bruch mit der Sozialdemokratie der II. Internationale und eine neue, radikalere Internationale. Denn Lenin hegte nicht die Illusion, dass die russische Revolution allein die Welt verändern könnte. Er hoffte auf den Westen, vor allem auf Deutschland. Russland würde lediglich den ersten Schritt tun.
Es gelang ihm, die Führung der SDAPR (B) zu überzeugen. Seine Argumente wurden begierig von Arbeitern, Soldaten und Bauern aufgesogen. Die Zahl der Parteimitglieder verzehnfachte sich in wenigen Monaten. An die 300 000 Bolschewiki bemühten sich, sein Revolutionsprogramms – durchaus auch im Streit und doch entschlossen und zielgerichtet – umzusetzen. Lenin vermochte jedoch nicht, auch die linken Konkurrenten im damals breiten Parteienspektrum für sich zu gewinnen. Bei all seiner taktischen Geschicklichkeit und Kompromissbereitschaft war er kein Mann leichtfertiger Zugeständnisse. Diese Konsequenz hatte ihren Preis, wie sich zeigen sollte.