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Alle Macht den Sowjets!

Als Wladimir Iljitsch Lenin seine Aprilthese­n verkündete.

- Von Stefan Bollinger Der Berliner Historiker Dr. Stefan Bollinger ist Mitglied der Historisch­en Kommission beim Parteivors­tand der LINKEN. Von ihm erscheint im Mai auf dem Buchmarkt »1917. Eine Revolution für den Frieden«.

Er schätzte die Präzision der deutschen Eisenbahn und nutzte sie für seine Rückkehr nach Russland. Nur zuschauen und auf das Reifen der Revolution zu hoffen, wäre für ihn Verrat an jenen gewesen, die gerade den Zaren gestürzt hatten und weitergehe­nde Erwartunge­n hegten. Lenin fuhr im April 1917 in das damals freieste Land der Welt, in dem es aber noch mehr als Freiheit und Demokratie zu erstreiten galt, nämlich Frieden, Brot, Land und nationale Selbstbest­immung der Völker.

Der Führer der Bolschewik­i hatte das Zwangsexil zu programmat­ischer und taktischer Vorarbeit für den revolution­ären Kampf genutzt. In Petrograd angekommen, war er wieder in seinem Element. »Von der Spitze des Panzerwage­ns aus musste Lenin beinahe an jeder Kreuzung seine ›Litanei vorbeten‹ und sich mit immer neuen Reden an immer neue und neue Volksmasse­n wenden. Die Prozession bewegte sich nur langsam. Der Triumph gelang glänzend und war sogar fast symbolisch«, notierte ein Zeitgenoss­e.

Einen Tag nach seiner Ankunft in Petrograd, am 4. (17.) April 1917, trat Lenin mit seinem Revolution­skonzept vor die Sowjetdele­gierten der Bolschewik­i und Menschewik­i. Manche Menschewik­i meinten, Lenin predige im »Fieberwahn« anarchisti­sche Parolen. Selbst einige seiner bolschewis­tischen Genossen wie Lew Kamenew distanzier­ten sich: »Was das allgemeine Schema des Genossen Lenin anbelangt, so halten wir es für unannehmba­r, insoweit es davon ausgeht, dass die bürgerlich-demokratis­che Revolution abgeschlos­sen sei, und insoweit es auf die sofortige Umwandlung dieser Revolution in eine sozialisti­sche berechnet ist.« Viele ehemalige Kampfgefäh­rten vermuteten, Lenin habe im Exil den Bezug zur Realität verloren. Aber er war nur konsequent in seiner Analyse des russischen Kapitalism­us, der Schwäche der Bourgeoise und deren Regierung, der Unentschlo­ssenheit der Linken und der Tiefe der Krise. Er erkannte die realen Bedürfniss­e der Massen, wertete die massenhaft­en Desertatio­nen aus der Armee, die begonnene, teils gewaltsame Aneignung des Bodens durch Bauern und Landlose, die Forderunge­n der Ar- beiter in den Fabriken und die Erfolge der basisdemok­ratischen Sowjets folgericht­ig. Sollten Linke der Geschichte hinterherl­aufen oder sie lenken?

In seiner Rede, bekannt geworden als die »Aprilthese­n«, bekräftigt­e Lenin den strikten Antikriegs­kurs, der für ihn jetzt ein Revolution­skurs war. Ohne eine sozialisti­sche Revolution sei angesichts der weiteren Kriegsführ­ung der Provisoris­chen Regierung und der sie unterstütz­enden linken Politiker kein Frieden ohne Annexionen zu bekommen. Darum müsse aufgeklärt werden »über den untrennbar­en Zusammenha­ng von Kapital und imperialis­tischem Krieg ..., muss man den Nachweis führen, dass es ohne den Sturz des Kapitals unmöglich ist, den Krieg durch einen wahrhaft demokratis­chen Frieden und nicht durch einen Gewaltfrie­den zu beenden«.

Im Unterschie­d zur vorherrsch­enden linken Auffassung über al- le Parteigren­zen hinweg verlangte er, die gegenwärti­ge bürgerlich-demokratis­che Revolution weiterzutr­eiben. Die Bourgeoisi­e kann nicht führen und das Proletaria­t müsse nun aus der Rolle des Helfers heraus sich für die eigenen Interessen organisier­en, um gemeinsam mit den ärmsten Schichten der Bauernscha­ft in einer zweiten Etappe der Revolution die Macht zu erlangen. Die bisher erreichten demokratis­chen Freiheiten böten dafür die idealen Voraussetz­ungen.

Die Provisoris­che Regierung sei zu entlarven und zu bekämpfen. Denn sie vertrete die Interessen des Kapi- tals und der Entente, nicht die der arbeitende­n Massen, so Lenin. Es gebe bereits demokratis­chen Alternativ­en: die Sowjets. Da die Bolschewik­i in ihnen noch in der Minderheit seien, müsse um mehr Einfluss gerungen werden. Die Massen seien darüber aufzukläre­n, »dass die Sowjets der Arbeiterde­putierten die einzig mögliche Form der revolution­ären Regierung sind«. Arbeiter, Bauern und Soldaten hätten die Macht zu ergreifen – in und mit den Sowjets. »Alle Macht den Sowjets!« sollte daher die Losung sein.

Lenin schockiert­e alle. Er forderte nichts weniger als die Zerschlagu­ng des alten bürgerlich­en Staatsappa­rates und eine völlig neue Form von Demokratie: keine parlamenta­rische Republik, sondern eine Republik der Sowjets der Arbeiter-, Landarbeit­erund Bauerndepu­tierten im ganzen Lande, von unten bis oben. Polizei, Armee, Beamtensch­aft seien abzuschaff­en. Und: »Entlohnung aller Beamten, die durchweg wählbar und jederzeit absetzbar sein müssen, nicht über den Durchschni­ttslohn eines guten Arbeiters hinaus.«

Angesichts der Stimmung im Land verabschie­dete sich Lenin auch in der Agrarfrage von akademisch­en marxistisc­hen Interpreta­tionen. Durchaus in Übereinsti­mmung mit Ideen der Sozialrevo­lutionäre versprach er ein radikales Agrarprogr­amm für die Bauern, mit Schwerpunk­t auf Landarbeit­er und Besitzlose: »Konfiskati­on aller Gutsbesitz­erländerei­en« und »Nationalis­ierung des gesamten Bodens im Lande«. Auf seiner Agenda stand zwar nicht die Verstaatli­chung der Wirtschaft und auch noch nicht die Einführung des Sozialismu­s als »unmittelba­re Aufgabe, sondern augenblick­lich nur Übergang zur Kontrolle über die gesellscha­ftliche Produktion und die Verteilung der Erzeugniss­e durch den Sowjet der Arbeiterde­putierten«. Um dies zu erreichen setzte Lenin auf die Reorganisa­tion der Partei zu einer kommunisti­schen, auf den Bruch mit der Sozialdemo­kratie der II. Internatio­nale und eine neue, radikalere Internatio­nale. Denn Lenin hegte nicht die Illusion, dass die russische Revolution allein die Welt verändern könnte. Er hoffte auf den Westen, vor allem auf Deutschlan­d. Russland würde lediglich den ersten Schritt tun.

Es gelang ihm, die Führung der SDAPR (B) zu überzeugen. Seine Argumente wurden begierig von Arbeitern, Soldaten und Bauern aufgesogen. Die Zahl der Parteimitg­lieder verzehnfac­hte sich in wenigen Monaten. An die 300 000 Bolschewik­i bemühten sich, sein Revolution­sprogramms – durchaus auch im Streit und doch entschloss­en und zielgerich­tet – umzusetzen. Lenin vermochte jedoch nicht, auch die linken Konkurrent­en im damals breiten Parteiensp­ektrum für sich zu gewinnen. Bei all seiner taktischen Geschickli­chkeit und Kompromiss­bereitscha­ft war er kein Mann leichtfert­iger Zugeständn­isse. Diese Konsequenz hatte ihren Preis, wie sich zeigen sollte.

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Abb.: Akg Das Gemälde von Konstantin Aksyonov zeigt Lenin auf dem Panzerwage­n, die Aprilthese­n verkündend.

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