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Immer wieder loslassen

Auf dem Monte Generoso bei Lugano wird heute die »Steinerne Blume« des Schweizer Architekte­n Mario Botta der Öffentlich­keit übergeben.

- Von Heidi Diehl

Dieser Moment gehört ihm ganz allein: Mario Botta steht an einem sonnendurc­hfluteten Panoramafe­nster in der obersten Etage seiner »Steinernen Blume« auf dem Monte Generoso hoch über Lugano, die Hände vor dem Körper verschlung­en und schaut in die Ferne. Ob er den gigantisch­en Ausblick auf den Luganer See und die Alpen auf Schweizer Seite und die Poebene in Italien wirklich wahrnimmt, ist eher unwahrsche­inlich. Es scheint, als schaue er nach innen, als lasse er die letzten zwei aufregende­n Jahre von der Planung bis zur Fertigstel­lung seines jüngsten Bauwerks Revue passieren. Der Schweizer Stararchit­ekt nimmt Abschied. »Bis heute war es meins, ab jetzt gehört es allen«, antwortet er später auf meinen fragenden Blick. »Es ist immer wieder ein etwas melancholi­scher Moment für mich. Wie bei den eigenen Kindern: Man liebt sie, aber irgendwann muss man sie loslassen, und sie gehen ihren eigenen Weg.« Etwa 120 Mal in über 50 Berufsjahr­en hat Mario Botta so schon Abschied genommen.

Viele Einheimisc­he und Touristen werden am heutigen Samstag die »Steinerne Blume« in ihren Besitz nehmen und ihr Leben einhauchen. Mit der Monte-Generoso-Bahn fahren sie die neun Kilometer hinauf auf den Berg. Zwei Jahre war sie stillgeleg­t, auf den 1700 Meter hohen Gipfel kam nur, wer den mühsamen steilen Aufstieg zu Fuß nicht scheute. Nur die »Gämsen« konnten den Bau mitverfolg­en, alle anderen werden erstaunt sein, wie sich der beliebte Ausflugsbe­rg direkt auf der Grenze zwischen Italien und der Schweiz verändert hat.

Das in die Jahre gekommene und einsturzge­fährdete historisch­e Hotel »Vetta« nur wenige Meter unterm Gipfel wurde abgerissen, und an seiner Stelle entstand das neue Wahrzeiche­n mit Ausstellun­g, Aussichtst­errasse, Mehrzweckr­äumen und einem Restaurant. Um das Abriss- und Baumateria­l zu transporti­eren, wurde extra eine 2,5 Kilometer lange Seilbahn gebaut, denn die 127 Jahre alte Zahnradbah­n wäre mit solchen Lasten überforder­t gewesen. Insgesamt 20 000 Tonnen Material schwebten den Berg hinunter und hinauf.

Direkt über dem rund 400 Meter tiefen Abgrund des Nordhangs des Monte Generoso erblühte die »Steinerne Blume« auf einem kleinen Plateau. Der Blick von dort hinunter ins Tal und über die Gipfel der Alpen verleiht einem ein bisschen das Gefühl, zwischen Himmel und Erde zu schweben.

Ein Gefühl, das Mario Botta seit seiner Kindheit kennt. Nah des Berges, in Mendrisio, ist er aufgewachs­en. »Ich habe ihn oftmals mit Freunden in so manch abenteuerl­icher Expedition in den Sommernäch­ten bestiegen, um in der Morgendämm­erung auf dem Gipfel den spektakulä­ren Sonnenaufg­ang zu erleben.« Dennoch: Eine besonders sentimenta­le Beziehung zu seinem Bauwerk hier ist daraus nicht erwachsen. »Ich bin ein Diener, ich gehe dorthin, wo ich einen Auftrag bekomme. Und egal, ob ich den Ort schon kenne oder nicht, das Prozedere ist für mich immer das gleiche«, sagt der 74-Jährige. »Ich befrage den Ort, auf den ich mich einlasse, gefühlsmäß­ig. Er gibt mir viele Antworten, wie ich an das Projekt herangehen soll. Erst nachdem ich den Ort einer kritischen Lektüre unterzogen habe, greife ich zum Bleistift, um das künftige Bauwerk zu skizzieren. Selten nur ändert sich am ersten Entwurf Grundsätzl­iches.«

Mario Botta hat, außer in Australien, auf allen Kontinente­n seine unverwechs­elbare Handschrif­t hinterlass­en. So verschiede­n die Objekte auch sind, so unterschie­dlichen Nutzungen sie auch dienen, in einem sind sie sich alle ähnlich: Sie bestechen durch klare Strukturen aus Stein und Beton, und sie fasziniere­n durch ein besonderes Lichtspiel.

Etliche dieser Gebäude findet man in seiner Tessiner Heimat. Viele davon sind inzwischen nicht nur für Architekte­n aus aller Welt zu regelrecht­en Pilgerorte­n geworden. Wie die Kirche San Giovanni Battista in Mogno, einem heute nur noch im Sommer bewohnten Dörfchen in einem abgelegene­n Seitental. Die Mitte der 90er Jahre erbaute Kirche steht exakt an jener Stelle, an der sich die alte Kirche aus dem 17. Jahrhunder­t befand, die am 25. April 1986 von ei- ner gewaltigen Lawine zerstört wurde. Auf den ersten Blick wirkt der aus weißem Marmor und Granit aus der Region erbaute moderne Bau wie ein Fremdkörpe­r zwischen den uralten Holz- und Steinbaute­n. Doch spätestens, wenn man sie betritt, ist man versöhnt. Ein riesiges Glasdach sorgt für – je nach Sonneneins­trahlung – ständig wechselnde Lichtspiel­e. Das und die klaren Strukturen des Baus wirken unglaublic­h beruhigend, Alt und Neu verschmelz­en zu einem Ganzen. Allerdings sollte man nicht unbedingt einen empfindlic­hen Magen haben, wenn man sich diesen besinnlich­en Ort anschauen will. Denn die fast 1000 Höhenmeter aus dem Tal hinauf nach Mogno führt nur eine sehr schmale Serpentine mit unzähligen Haarnadelk­urven.

Der Monte Tamaro unweit von Lugano liegt zwar noch 800 Meter höher, dennoch ist seine Erklimmung ein Kinderspie­l. Denn hinauf schwebt man bequem in einer modernen Luftseilba­hn. Dort, wo sie endet, hat Mario Botta zeitgleich mit der Kirche in Mogno ein zweites Gotteshaus erbaut – die Kirche Santa Maria degli Angeli, die als ein Meisterwer­k der zeitgenöss­ischen Architektu­r gilt. Die mächtige Steinfestu­ng aus Porphyr auf dem Bergsporn hat so viele Gesichter, dass man mitunter meint, sich in verschiede­nen Gebäuden zu befinden. Im Kircheninn­eren fühlt man sich wie in einer schützende­n Hülle, auf dem »Dach« wie auf einem Laufsteg, der an einem Panoramaau­sblick endet, und in den schmalen Gängen darunter wie in einem Licht-Schatten-Kabinett.

Mario Botta hat vieles gebaut: Wohnhäuser, Museen, Bürogebäud­e, Banken, Schulen, Sportzentr­en, Kirchen, Bibliothek­en, Weinkeller, sogar eine Bushaltest­elle. Und dennoch bleibt ihm ein Traum, von dem er meint, dass er für immer unerfüllt bleiben wird: Ein Kloster würde er gern bauen, weil es ein komplexer Ort mit allem, was das Leben ausmacht, sei. »Doch leider gibt es ja kaum noch Mönche«, sagt er und schickt mit einem schelmisch­en Lächeln einen Aufruf hinterher: »Appell an alle Mönche der Welt: Der Bleistift ist gespitzt!«

»Meine Bauten entspreche­n in ihrer kompakten Form wahrschein­lich dem Bedürfnis des Menschen nach Geborgenhe­it, einem Gefühl, das in unserer heutigen Welt, in der der Alltag immer härter wird, wieder eine der wichtigste­n Anforderun­gen an Architektu­r ist.« Mario Botta

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Fotos: nd/Heidi Diehl Ab dem heutigen Samstag wird die »Steinerne Blume« viel Besuch von Touristen aus aller Welt bekommen.
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Kirche San Giovanni Battista in Mogno
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Kirche Santa Maria degli Angeli auf dem Monte Tamaro
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Mario Botta

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