Vom Krieg gezeichnet
Im ostukrainischen Avdiivka sind alle vom Krieg gezeichnet – die Stadt und die Soldaten
Vom bitteren Alltag im Städtchen Avdiivka in der Ostukraine.
Fast drei Jahre dauert der Krieg in der Ostukraine nun schon an. Längst ist er zum zermürbenden Alltag für die Soldaten geworden.
Mal für Mal hat »Grek« die ukrainische Flagge über dem Areal von Shakta Butovka bei der Stadt Avdiivka gehisst. Jetzt stapft der Soldat der ukrainischen Armee über das ehemalige Betriebsgelände des Kohleschachts. Der starke Beschuss der prorussischen Separatisten hat die Gebäude arg in Mitleidenschaft gezogen, Bäume sind zerfetzt. Der Förderturm steht noch, wenn auch stark beschädigt. Das Gelände ist von den Hunderten von Granateinschlägen schwer gezeichnet, von Trümmern übersät.
Ein Synonym des Krieges
»Das hat hier alles keinen Sinn. Die Terroristen sind auf ukrainischem Territorium. Unsere Kommandanten geben uns keine Möglichkeit, zurückzuschlagen«, sagt »Grek«. Wie von ihm, so hört man immer wieder von ukrainischen Soldaten die gleichen Erklärungen: Die Separatisten nutzen auch schwere Artillerie und Panzer, während die ukrainische Armee sich lediglich mit Maschinengewehren und Antipanzer-Granatwerfern verteidigen würde.
Seit zwei Jahren schon dient »Grek« in der ukrainischen Armee. Er ist verheiratet, hat drei Kinder im Alter von fünf, acht und 21 Jahren. »Sie rufen jeden Tag an und fragen, wann ich heimkomme. Sie wissen, sie müssen warten«, sagt er lapidar. Der 42Jährige, ursprünglich Geologe von Beruf, ist an den strategisch wichtigen Punkten Shaktar Butovka, Zenit und dem Industriegebiet der Stadt Avdiivka im Einsatz.
Spätestens seit der mehrtägigen Eskalation Ende Januar ist auch die Stadt Avdiivka zum Synonym des Krieges in der Ostukraine geworden. Die Stromversorgung hat tagelang nicht funktioniert, man stand kurz vor einer Evakuierung. Das Industriegebiet am südöstlichen Stadtrand ist dabei einer der Hauptschauplätze der Kampfhandlungen. Es liegt nahe der von den Separatisten gehaltenen Verbindungsstraße Donezk-Horlovka und ist darum von strategischer Bedeutung. Der größte Teil des Industriegeländes ist unter Kontrolle der ukrainischen Armee.
Nicht weit entfernt befindet sich die Wasserfilterstation für die Großregion Donezk mit über einer Million Einwohnern. Nur mit Müh und Not gelang es, für Reparaturarbeiten an der Filterstation die Konfliktparteien zu einer kurzen Waffenpause zu bewegen. Um jeden Meter Gelände und um jede Position wird hier sonst gekämpft.
Der Krieg in der Ostukraine ist längst zum Abnutzungskampf geworden. Große Offensiven hat es zwar seit dem zweiten Abkommen von Minsk im Februar 2015 mit Ausnahme der Kesselschlacht von Debalzevo nicht mehr gegeben. Vielmehr sind es aber punktuelle Schlagabtausche, die die Soldaten zermürben und die Zivilbevölkerung in den betroffenen Gebieten nicht zur Ruhe kommen lassen. Die einzigen messbaren Resultate in den letzten zwei Jahren sind geringfügige Verschiebungen der Frontlinie. Seit Beginn des Krieges zwischen der ukrainischen Armee und den prorussischen Separatisten aus Donezk sowie Luhansk sind rund 10 000 Menschen ums Leben gekommen und laut dem Flüchtlingshilfswerk UNHCR rund 1,7 Millionen Einwohner geflohen.
»Spannungen werden steigen«
Alexander Hug, stellvertretender Leiter der OSZE-Sondermission in der Ukraine, bestätigt im Gespräch mit »nd« Ende März eine höchst instabile Situation entlang der Frontlinie. »Es gibt dafür zwei Hauptgründe. Einerseits sind nach wie vor schwere Waffen vor Ort. Zweitens ist es die Nähe der Positionen. Teilweise liegen sie nur wenige Meter auseinander«, so Hug. Wurden in der einen Woche jeden Tag zwischen 1500 und über 4000 Explosionen gezählt, gingen danach die Zahlen etwas zurück.
Dabei sind es fünf Hauptschauplätze, an denen die meisten Kampfhandlungen stattfinden, so eben auch zwischen Donezk und Avdiivka. Die Massierung von schweren Waffen an der Front wird bereits seit Ende Dezember beobachtet. »Die Spannungen werden ansteigen«, zeigt sich Hug wenig zuversichtlich. Die OSZE sel- ber kann dagegen nichts tun: »Unsere Mission hat zwar abschreckende Wirkung, aber kein friedenserzwingendes Mandat.«
Neben der Entflechtung der Truppen an der Front und dem Abzug schwerer Waffen sieht Hug noch einen weiteren Aspekt, der berücksichtigt werden solle. »Was wichtig wäre, aber nicht passiert: Trotz der Verletzungen des Waffenstillstandabkommens wird niemand zur Rechenschaft gezogen.«
Wenige Kilometer entfernt von Shakta Bukovka liegt das frühere Ausflugsrestaurant Zarskaja Ochota. Dieser Ort liegt an der rechten Flanke des umkämpften Industriegebietes von Avdiivka. Beim mittlerweile zerschossenen Hauptgebäude parkt ein Lastwagen, am Straßenrand steht ein gepanzertes Fahrzeug. An diesem grauen Märztag kehrt rund ein Dutzend Soldaten von der Front zurück. Man blickt in müde, abgekämpfte Gesichter. »Man sollte angreifen und das Land bis zur russischen Grenze einnehmen«, sagt der 26-jährige Alex. Er zeigt sich von der ukrainischen Führung, die ganz offensichtlich militärisch auf den Status quo setzt, wenig erbaut. Soldaten, die mit der ukrainischen Regierung hadern – sie findet man immer wieder entlang der Frontlinie. Sie kämpfen für ihr Land, aber sicher nicht für ihre Regierung.
Soldaten mit 80 Prozent Scheidungsrate
Der Krieg in der Ostukraine läuft bereits seit drei Jahren und ein Ende ist nicht in Sicht. Der Krieg ist zum Alltag geworden – irgendwie und doch nicht ganz. Jolanta Bochkarova ist Psychologin, hat in den letzten Jahren viel Zeit mit Soldaten der ukrainischen Armee in den Frontgebieten verbracht. Zuletzt war sie in Muratove im Oblast Luhansk stationiert. »Die Soldaten verstehen die Politik nicht«, sagt Bochkarova. Sie seien patriotisch eingestellt, fühlten sich aber von ihrer Regierung betrogen.
Der faktische Stillstand des Konfliktes löse Wut aus und Apathie. »Es gibt keine Motivation unter solchen Umständen«, sagt die Psychologin. Generell ließen sich die Soldaten in drei Kategorien ordnen: Die Freiwilligen, viele mit Erfahrung aus früheren Kriegen wie in Afghanistan. Dann solche, die den Krieg quasi bereits in sich hätten, keinen richtigen Platz in der Gesellschaft fänden. Schließlich diejenigen, die eingezogen werden. »Diese sind meist in einem schlechten psychischen Zustand, denn sie müssen dienen, obwohl sie nicht wollen.«
Die Scheidungsrate von Soldaten in der Ukraine liege bei 80 Prozent, sagt Bochkarova. »Ein Mann, der aus dem Krieg zurückkehrt, ist anders. Er muss selber akzeptieren, dass er anders ist. Um wieder zurück ins Leben zu kommen, braucht es Zeit. Und diese lässt sich nicht verkürzen.« Nicht nur der Soldat selber, auch die Familie müsse durch diesen Prozess. Jolanta Bochkarova erklärt, dass die Ukraine im Gegensatz zu Ländern wie den USA oder Israel noch über keine speziellen Programme für Soldaten, die von der Front zurückkehren, und über wenige Institutionen verfüge, um ihre Soldaten ins normale Leben zurückzuführen.
SMS vom Gegner
In der »Promzona«, dem Industriegebiet Avdiivkas, hält sich die ukrainische Armee. Tief im Inneren eines Gebäudes ist die Mannschaftsunterkunft. Es ist eng und fast dunkel. Schlafplatz ist an Schlafplatz gereiht, Kleidung hängt zum Trocknen. Im Hintergrund läuft der Fernseher – mit einem russischen Nachrichtenkanal. An einem Herd kocht ein Soldat Bratkartoffeln, in einen Sessel hat sich ein weiterer hingefläzt, trinkt Tee.
Die Soldaten hier empfangen SMS von der gegnerischen Seite. »ATOKämpfer. Dir wird es ergehen wie im Winter den Deutschen in Stalingrad.« Die Ukrainer sind überzeugt: Die Separatisten selber sind alleine dazu nicht fähig, es muss russische Technik dahinter stecken. Der ukrainische Kommandant mit dem Kampfnamen »Zloy«, was soviel wie »der Böse« heißt, bleibt über die Motivation der Russen im Unklaren: »Geopolitik. Ich bin kein Experte. Der Westen verliert hier nichts.«
»Ein Mann, der aus dem Krieg zurückkehrt, ist anders. Er muss selber akzeptieren, dass er anders ist. Um wieder zurück ins Leben zu kommen, braucht es Zeit. Und diese lässt sich nicht verkürzen.« Jolanta Bochkarova Psychologin