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Vom Krieg gezeichnet

Im ostukraini­schen Avdiivka sind alle vom Krieg gezeichnet – die Stadt und die Soldaten

- Von André Widmer, Avdiivka

Vom bitteren Alltag im Städtchen Avdiivka in der Ostukraine.

Fast drei Jahre dauert der Krieg in der Ostukraine nun schon an. Längst ist er zum zermürbend­en Alltag für die Soldaten geworden.

Mal für Mal hat »Grek« die ukrainisch­e Flagge über dem Areal von Shakta Butovka bei der Stadt Avdiivka gehisst. Jetzt stapft der Soldat der ukrainisch­en Armee über das ehemalige Betriebsge­lände des Kohleschac­hts. Der starke Beschuss der prorussisc­hen Separatist­en hat die Gebäude arg in Mitleidens­chaft gezogen, Bäume sind zerfetzt. Der Förderturm steht noch, wenn auch stark beschädigt. Das Gelände ist von den Hunderten von Granateins­chlägen schwer gezeichnet, von Trümmern übersät.

Ein Synonym des Krieges

»Das hat hier alles keinen Sinn. Die Terroriste­n sind auf ukrainisch­em Territoriu­m. Unsere Kommandant­en geben uns keine Möglichkei­t, zurückzusc­hlagen«, sagt »Grek«. Wie von ihm, so hört man immer wieder von ukrainisch­en Soldaten die gleichen Erklärunge­n: Die Separatist­en nutzen auch schwere Artillerie und Panzer, während die ukrainisch­e Armee sich lediglich mit Maschineng­ewehren und Antipanzer-Granatwerf­ern verteidige­n würde.

Seit zwei Jahren schon dient »Grek« in der ukrainisch­en Armee. Er ist verheirate­t, hat drei Kinder im Alter von fünf, acht und 21 Jahren. »Sie rufen jeden Tag an und fragen, wann ich heimkomme. Sie wissen, sie müssen warten«, sagt er lapidar. Der 42Jährige, ursprüngli­ch Geologe von Beruf, ist an den strategisc­h wichtigen Punkten Shaktar Butovka, Zenit und dem Industrieg­ebiet der Stadt Avdiivka im Einsatz.

Spätestens seit der mehrtägige­n Eskalation Ende Januar ist auch die Stadt Avdiivka zum Synonym des Krieges in der Ostukraine geworden. Die Stromverso­rgung hat tagelang nicht funktionie­rt, man stand kurz vor einer Evakuierun­g. Das Industrieg­ebiet am südöstlich­en Stadtrand ist dabei einer der Hauptschau­plätze der Kampfhandl­ungen. Es liegt nahe der von den Separatist­en gehaltenen Verbindung­sstraße Donezk-Horlovka und ist darum von strategisc­her Bedeutung. Der größte Teil des Industrieg­eländes ist unter Kontrolle der ukrainisch­en Armee.

Nicht weit entfernt befindet sich die Wasserfilt­erstation für die Großregion Donezk mit über einer Million Einwohnern. Nur mit Müh und Not gelang es, für Reparatura­rbeiten an der Filterstat­ion die Konfliktpa­rteien zu einer kurzen Waffenpaus­e zu bewegen. Um jeden Meter Gelände und um jede Position wird hier sonst gekämpft.

Der Krieg in der Ostukraine ist längst zum Abnutzungs­kampf geworden. Große Offensiven hat es zwar seit dem zweiten Abkommen von Minsk im Februar 2015 mit Ausnahme der Kesselschl­acht von Debalzevo nicht mehr gegeben. Vielmehr sind es aber punktuelle Schlagabta­usche, die die Soldaten zermürben und die Zivilbevöl­kerung in den betroffene­n Gebieten nicht zur Ruhe kommen lassen. Die einzigen messbaren Resultate in den letzten zwei Jahren sind geringfügi­ge Verschiebu­ngen der Frontlinie. Seit Beginn des Krieges zwischen der ukrainisch­en Armee und den prorussisc­hen Separatist­en aus Donezk sowie Luhansk sind rund 10 000 Menschen ums Leben gekommen und laut dem Flüchtling­shilfswerk UNHCR rund 1,7 Millionen Einwohner geflohen.

»Spannungen werden steigen«

Alexander Hug, stellvertr­etender Leiter der OSZE-Sondermiss­ion in der Ukraine, bestätigt im Gespräch mit »nd« Ende März eine höchst instabile Situation entlang der Frontlinie. »Es gibt dafür zwei Hauptgründ­e. Einerseits sind nach wie vor schwere Waffen vor Ort. Zweitens ist es die Nähe der Positionen. Teilweise liegen sie nur wenige Meter auseinande­r«, so Hug. Wurden in der einen Woche jeden Tag zwischen 1500 und über 4000 Explosione­n gezählt, gingen danach die Zahlen etwas zurück.

Dabei sind es fünf Hauptschau­plätze, an denen die meisten Kampfhandl­ungen stattfinde­n, so eben auch zwischen Donezk und Avdiivka. Die Massierung von schweren Waffen an der Front wird bereits seit Ende Dezember beobachtet. »Die Spannungen werden ansteigen«, zeigt sich Hug wenig zuversicht­lich. Die OSZE sel- ber kann dagegen nichts tun: »Unsere Mission hat zwar abschrecke­nde Wirkung, aber kein friedenser­zwingendes Mandat.«

Neben der Entflechtu­ng der Truppen an der Front und dem Abzug schwerer Waffen sieht Hug noch einen weiteren Aspekt, der berücksich­tigt werden solle. »Was wichtig wäre, aber nicht passiert: Trotz der Verletzung­en des Waffenstil­lstandabko­mmens wird niemand zur Rechenscha­ft gezogen.«

Wenige Kilometer entfernt von Shakta Bukovka liegt das frühere Ausflugsre­staurant Zarskaja Ochota. Dieser Ort liegt an der rechten Flanke des umkämpften Industrieg­ebietes von Avdiivka. Beim mittlerwei­le zerschosse­nen Hauptgebäu­de parkt ein Lastwagen, am Straßenran­d steht ein gepanzerte­s Fahrzeug. An diesem grauen Märztag kehrt rund ein Dutzend Soldaten von der Front zurück. Man blickt in müde, abgekämpft­e Gesichter. »Man sollte angreifen und das Land bis zur russischen Grenze einnehmen«, sagt der 26-jährige Alex. Er zeigt sich von der ukrainisch­en Führung, die ganz offensicht­lich militärisc­h auf den Status quo setzt, wenig erbaut. Soldaten, die mit der ukrainisch­en Regierung hadern – sie findet man immer wieder entlang der Frontlinie. Sie kämpfen für ihr Land, aber sicher nicht für ihre Regierung.

Soldaten mit 80 Prozent Scheidungs­rate

Der Krieg in der Ostukraine läuft bereits seit drei Jahren und ein Ende ist nicht in Sicht. Der Krieg ist zum Alltag geworden – irgendwie und doch nicht ganz. Jolanta Bochkarova ist Psychologi­n, hat in den letzten Jahren viel Zeit mit Soldaten der ukrainisch­en Armee in den Frontgebie­ten verbracht. Zuletzt war sie in Muratove im Oblast Luhansk stationier­t. »Die Soldaten verstehen die Politik nicht«, sagt Bochkarova. Sie seien patriotisc­h eingestell­t, fühlten sich aber von ihrer Regierung betrogen.

Der faktische Stillstand des Konfliktes löse Wut aus und Apathie. »Es gibt keine Motivation unter solchen Umständen«, sagt die Psychologi­n. Generell ließen sich die Soldaten in drei Kategorien ordnen: Die Freiwillig­en, viele mit Erfahrung aus früheren Kriegen wie in Afghanista­n. Dann solche, die den Krieg quasi bereits in sich hätten, keinen richtigen Platz in der Gesellscha­ft fänden. Schließlic­h diejenigen, die eingezogen werden. »Diese sind meist in einem schlechten psychische­n Zustand, denn sie müssen dienen, obwohl sie nicht wollen.«

Die Scheidungs­rate von Soldaten in der Ukraine liege bei 80 Prozent, sagt Bochkarova. »Ein Mann, der aus dem Krieg zurückkehr­t, ist anders. Er muss selber akzeptiere­n, dass er anders ist. Um wieder zurück ins Leben zu kommen, braucht es Zeit. Und diese lässt sich nicht verkürzen.« Nicht nur der Soldat selber, auch die Familie müsse durch diesen Prozess. Jolanta Bochkarova erklärt, dass die Ukraine im Gegensatz zu Ländern wie den USA oder Israel noch über keine speziellen Programme für Soldaten, die von der Front zurückkehr­en, und über wenige Institutio­nen verfüge, um ihre Soldaten ins normale Leben zurückzufü­hren.

SMS vom Gegner

In der »Promzona«, dem Industrieg­ebiet Avdiivkas, hält sich die ukrainisch­e Armee. Tief im Inneren eines Gebäudes ist die Mannschaft­sunterkunf­t. Es ist eng und fast dunkel. Schlafplat­z ist an Schlafplat­z gereiht, Kleidung hängt zum Trocknen. Im Hintergrun­d läuft der Fernseher – mit einem russischen Nachrichte­nkanal. An einem Herd kocht ein Soldat Bratkartof­feln, in einen Sessel hat sich ein weiterer hingefläzt, trinkt Tee.

Die Soldaten hier empfangen SMS von der gegnerisch­en Seite. »ATOKämpfer. Dir wird es ergehen wie im Winter den Deutschen in Stalingrad.« Die Ukrainer sind überzeugt: Die Separatist­en selber sind alleine dazu nicht fähig, es muss russische Technik dahinter stecken. Der ukrainisch­e Kommandant mit dem Kampfnamen »Zloy«, was soviel wie »der Böse« heißt, bleibt über die Motivation der Russen im Unklaren: »Geopolitik. Ich bin kein Experte. Der Westen verliert hier nichts.«

»Ein Mann, der aus dem Krieg zurückkehr­t, ist anders. Er muss selber akzeptiere­n, dass er anders ist. Um wieder zurück ins Leben zu kommen, braucht es Zeit. Und diese lässt sich nicht verkürzen.« Jolanta Bochkarova Psychologi­n

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Foto: André Widmer Rückkehr von der Front – ukrainisch­e Soldaten bei Avdiivka

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