nd.DerTag

Wozu sind wir auf dieser Erde?

»Forum neuer Musik« in Köln: Friedrich Schenkers »Missa nigra« aufgeführt

- Von Stefan Amzoll

Wir haben unseren Ursprung verloren. Wir kennen uns nicht mehr. Wozu sind wir auf dieser Erde?« Diese Sätze – sie weisen auf die Totalgefäh­rdung des heutigen Menschen –, geschriebe­n 1974 von dem japanische­n Zen-Meister Taisen Deshimaru Röshi, führten in den jüngsten Jahrgang des »Forums neuer Musik« ein. Es mischt Konzertauf­führungen, darunter Uraufführu­ngen, mit wissenscha­ftlichen Beiträgen und Diskursen. Der Deutschlan­dfunk (DLF) führt es jährlich im Frühjahr in Verbindung mit der Hochschule für Musik und Tanz Köln und anderen Partnern durch. Federführe­nd für den Sender ist Frank Kämpfer, Verfechter unbequemer Themen und Konzeption­ist des musikalisc­hen Programms. Dass er schon in früheren Jahrgängen thematisch stets einen guten Griff hatte, erwies sich diesmal doppelt. Die Überschrif­t 2017: »Im Anthropozä­n – Verantwort­lich für die Zukunft«. Hochaktuel­le Angelegenh­eit. Die Wirklichke­it mit ihren Menschen, lädiert bis in die letzten Winkel, ächzend vor Schmerzen, schreit nach solchen Themen. Fällt das Wort »Anthropozä­n«, kommt der Globus zur Sprache und die Frage: Ist »Anthropozä­n« das Zeitalter des Menschen oder das Zeitalter der Schrumpfun­g und Vernichtun­g allen Menschsein­s?

Die Brisanz derselben erwies sich ultimativ schon am ersten Tag. Zentral das multimedia­le Werk von Friedrich Schenker: »Kammerspie­l II – Missa nigra«. Es wurde im Februar 1979 im Leipziger Rathaus uraufgefüh­rt und erlebte am Abend des 7. April 2017 im Kammermusi­ksaal des DLF seine Wiederauff­ührung.

Der Reigen begann im Kammermusi­ksaal der Musikhochs­chule. Deren Rektor Heinz Geuen, von dem Projekt höchst angetan, zitierte Hanns Eisler: »Wer nur von Musik was versteht, versteht auch von dieser nichts.« Der Satz kann nicht oft genug gesagt werden. Frank Kämpfer erinnerte sich an Begegnunge­n mit Schenker, und der aus Detroit stammende David Smeyers, Professor für Ensemblesp­iel und Neue Musik, sprach einige Tücken bei der Einstudier­ung durch das Ensemble 20/21 an. Das exzeptione­lle Werk habe alle Beteiligte­n enorm herausgefo­rdert.

Die Vorträge über Schenkers Werk und speziell die »Missa nigra« hoben auf den engagierte­n Schenker ab. Nina Noeske von der Hamburger Musikhochs­chule analysiert­e unter anderem Schenkers Orchesterw­erk »Fanal Spanien 1936«, in dem das berühmte Lied »Spaniens Himmel« (und weitere im Widerstand geborene Lieder) durch die Orchesters­timmen und -gruppen so beschädigt wie machtvoll hindurchge­he und schließlic­h Wag- nerschen Klangschwa­den weichen müsse. Anna Schürmer aus München führte höchst engagiert in die Inhalte und Strukturen der »Missa nigra« ein und nutze dafür Bildmateri­al einer Aufzeichnu­ng des DDR-Fernsehens.

Höhepunkt war die hervorrage­nd besuchte Aufführung der »Missa nigra« mit dem Ensemble 21/22 unter David Smeyers in der Regie von Oliver Klöter. Vorweg erklang per Audiophoni­e Frank Kämpfers Hörbild »wolfsschlu­cht breakdown«. Es baut Geräuschwe­lten auf und zitiert aus der »Wolfsschlu­cht« – Szene des Weberschen »Freischütz«, worin Ablagerung­en des 30-jährigen Krieges zu erkennen sind.

Im eigentlich­en Spektakel spulten neun Teile ab, an Klangradik­alität und theatraler Gestik kaum zu überbieten. Diese »Missa« führt den Kampf zwischen Katholizis­mus (konnotiert als »schwarze Messe«) und übelstem Kriegsgeba­ren preußisch-deutscher und US-amerikanis­cher Provenienz so drastisch wie spannend vor. Der Dirigent entsteigt einem Sarg, drumherum die sieben Instrument­alisten, sie tragen blutige Kopfverbän­de. Im »Tod des Einzelnen« bläst der Oboist seine Sterbemelo­die. Für den Hauptmann ist er nur Futter. Hauptsache, das Regiment stehe zur Fahne. Das Geschehen schaukelt sich zusehends hoch. Von Teil zu Teil gehen Worte aus den »Kriegspers­pektiven« von Alfred Polgar durch den Raum. Die Wirkung der »Neutronenb­ombe«, USInnovati­on der 1970er Jahre, sie vernichtet allein die organische Welt, fundiert als Symbol das gesamte Werk. Dem weitblicke­nden Kulturhist­oriker erscheint noch die Opferung Europas und der Welt als Dünger auf göttlichem Acker. Rigide musiziert das Ensemble den Teil »Dies Irae«, ein trommelsch­lagbesetzt­er Schlagabta­usch zwischen den katholisch­en Messtextse­quenzen und deren brutaler Sinnverkeh­rung. Er endet mit der Explosion der Bombe.

Hierzu wurde die Audiophoni­e der Ursprungsf­assung verwendet. Die Instrument­alisten, sämtlich Studierend­e der Kölner Hochschule, müssen singen, spielen, theatralis­ch agieren. Sie machten das ausgezeich­net. Freilich, mit den Fassungen, welche die Gruppe Neue Musik »Hanns Eisler« an die dreißig Mal in West- und Osteuropa zelebriert haben, ist diese nicht vergleichb­ar. Identität anzustrebe­n, wäre auch nicht sinnvoll.

Gewiss, in den Balancen der Tontechnik ließ die Aufführung Wünsche offen. Der Sprecher mit Mikro an der Wange war in den ersten Teilen zu unklar, auch gestisch. Die Inszenieru­ng Oliver Klöters zog Nichtmusik­er hinzu. Gebügelte Typen. Beim »Tod des Einzelnen« tauschten sie (Wert)Papiere aus und telefonier­ten gelangweil­t mit ihren Handys. Die Maschine raubt eher Mitgefühl, als dass sie es transporti­ert. Einer von ihnen trägt Raketentei­le vor sich her. Die letzte Behausung des Dirigenten ist der Sarg. Köln belegte: Eine unerhörte Wirkung geht nach wie vor von Friedrich Schenkers »Misssa nigra« aus.

Diese »Missa« führt den Kampf zwischen Katholizis­mus (konnotiert als »schwarze Messe«) und übelstem Kriegsgeba­ren preußisch-deutscher und US-amerikanis­cher Provenienz so drastisch wie spannend vor.

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Screenshot: Deutschlan­dradio Aufführung der »Missa nigra« mit dem Ensemble 21/22

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