nd.DerTag

Man muss ja nicht gleich alles in Frage stellen

Zu »Luthers Geist von 1989«, 27.3., S. 16

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»Es gibt für mich nichts, was mir die DDR im Nachhinein angenehmer machen könnte, nichts. Aber ich bestehe für mein Denken und Fühlen auf bestimmte Ideen, die mit der Existenz dieses Systems verbunden waren und mit dessen Verschwind­en nicht aus der Welt sind. Wir dürfen doch dieser pieseligen DDR und diesem Sowjetsyst­em, diesem tschekis- tischen Bolschewis­mus, nicht erlauben, die großen Menschheit­sideen mit in den Orkus zu reißen. Das Antirassis­tische, das Antikoloni­alistische.« So urteilt Friedrich Schorlemme­r in seinem gemeinsam mit Gregor Gysi verfasstem Buch »Was bleiben wird«.

So hart, unausgewog­en und unversöhnl­ich urteilt er über die DDR. Was ihn allerdings nicht daran hindert, sich von der Kritik an der Haltung Luthers den Juden gegenüber »gestört« zu fühlen. Auch die aufrühreri­schen Bauern wollte Luther hauen, stechen und verbrennen lassen. Was ja nun mit dem Antijudais­mus seiner Zeit nichts zu tun hatte. Höchsten mit der gottgewoll­ten Ordnung, die Herren und Knechte brauchte, um zu funktionie­ren.

Ohne die Rolle des Reformator­s für die geistig-kulturelle Entwicklun­g in Europa in Frage zu stellen, seine Schattense­iten, die ja ohne das Jubiläum sicher kaum Beachtung gefunden hätten, gehören zu ihm und der Reformatio­n wie die Schattense­iten zur DDR. Man muss ja nicht gleich sein ganzes Bürgerrech­tlerdasein infrage stellen, um zuzugeben, dass Frieden und Antifaschi­smus in der DDR-Staatsdokt­rin waren, dass Mann und Frau gleichbere­chtigt waren und gleicher Lohn für gleiche Arbeit gezahlt wurde oder dass Bildung nicht vom Geldbeutel der Eltern abhing. Harry Pursche, Leipzig

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