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Wie auf Samtpfoten

In kommunaler Regierungs­verantwort­ung agiert die Front National gemäßigt. Doch sie will die Macht im Staate

- Von Bernard Schmid

Die Provinz Picardie ist von industriel­lem Abstieg und Jobverlust geprägt – und von Soldaten, die sich hier in den 1960er Jahren niederließ­en. Eine Reise in eine Hochburg der Front National.

In einem Schreberga­rten am Rande einer kleinen Hochhaussi­edlung von Creil, einer Gemeinde in der ehemaligen Region und Provinz Picardie im Norden Frankreich­s, steht Gérard. Er ist Mitte 60, frisch verrentet und er wird, daraus macht er keinen Hehl, für die Front National (FN) stimmen. »Wir haben unser Leben lang hart gearbeitet«, meint der Mann, der als Schweißer und als Fahrer auf Baustellen tätig war. »Und heute? Da bleibt uns am Monatsende nichts mehr übrig. Und dann sieht man in der Siedlung diese Jungen: Sie beziehen Sozialhilf­e, und dreimal am Tag sieht man sie am Steuer von anderen Autos sitzen. Und nur Markenturn­schuhe tragen sie. Finden Sie das etwa normal?«

Gérard scheint auf die Existenz von kleinkrimi­nellen Netzwerken, insbesonde­re auf Dealer in der Hochhaussi­edlung anzuspiele­n. Junge Erwachsene sind wegen der ökonomisch­en Situation und aufgrund ihrer Herkunft vom Zugang zu regulären Jobs weitgehend ausgeschlo­ssen. Für sie ist somit oftmals die Dealerei die einzige Einkommens­quelle.

Creil im Départemen­t (Verwaltung­sbezirk) Oise wählt überdurchs­chnittlich stark FN. Bei der letzten Europaparl­amentswahl 2014 waren es 33 Prozent. In historisch­er Erinnerung ist der Name Creil in Frankreich durch eine Affäre geblieben. Im September 1989 brach hier die sogenannte Affaire de Creil aus. Es handelte sich um den ersten Kulturkamp­f um das muslimisch­e Kopftuch an französisc­hen Bildungsan­stalten. Ein Schuldirek­tor, Mitglied der konservati­ven Partei RPR, eine der Vorläuferp­arteien von Les Républicai­ns vom jetzigen Präsidents­chaftskand­idaten François Fillon, ordnete den Schulaussc­hluss der marokkanis­chstämmige­n Mädchen Fatima und Leila Achahboun sowie Samira Saidani an. Der Anlass : Sie trugen eine Kopfbedeck­ung. Der ideologisc­he Streit darum kochte schnell hoch. Anfang Dezember 1989 stand in Dreux – westlich von Paris – eine Nachwahl für einen frei gewordenen Parlaments­sitz an. Dabei erhielt die FNKandidat­in Marie-France Stirbois spektakulä­re 61,3 Prozent und zog in die Nationalve­rsammlung ein – als damals einzige Abgeordnet­e ihrer Partei unter dem Mehrheitsw­ahlrecht.

Doch die Ursache für den gegenwärti­gen Erfolg der FN in Creil ist nicht in erster Linie in der damaligen Kopftuchaf­färe zu suchen, sondern in den sozioökono­mischen Verhältnis­sen der Region. So handelt es sich zum einen beim Bezirk Oise, wie bei der Picardie insgesamt, um eine von industriel­lem Abstieg und Jobverlust geprägte Region. Zum anderen wurden im Départemen­t Oise nach dem Ende des Algerienkr­iegs 1962 viele frühere Soldaten aus dem Kolonialkr­ieg angesiedel­t, die vom Staat günstigen Baugrund erhielten.

Die Regierung des Rechtssozi­aldemokrat­en Guy Mollet hatte 1956 die Wehrpflich­tigenarmee mitsamt Grundwehrd­ienstleist­enden nach Nordafrika abkommandi­ert, so dass in Algerien insgesamt über 500 000 Soldaten Dienst taten. Viele kamen mit Traumata zurück, manche auch mit ausgeprägt­en rassistisc­hen Revanchege­lüsten. Ihre Präsenz hat die Region in den letzten Jahrzehnte­n nachhaltig mit geprägt.

In den Landstrich­en der Picardie hätte die Front National beinahe schon einmal regiert: Bei den Regionalpa­rlamentswa­hlen vor anderthalb Jahren sagten viele Umfragen der rechtsextr­emen Partei einen Sieg vor allem in Nordostfra­nkreich voraus. Zum selben Zeitpunkt, Ende 2015, verschwand­en mehrere alte Verwaltung­sregionen Frankreich­s, und die bisherigen Regionen Picardie, Nord sowie Pas-de-Calais wurden in der neuen Großeinhei­t unter dem Na- men Hauts-de-France zusammenge­fasst. Bei ihr handelte es sich um eine von drei der insgesamt 13 neuen Großregion­en, in denen ein Durchmarsc­h der Le Pen-Partei bis in die Regionalre­gierung möglich erschien. Letztendli­ch kam es aber anders: Die Sammlung von WählerInne­n aus unterschie­dlichen Lagern, von links bis konservati­v, versperrte der FN doch noch den Weg. Sie konnte keine einzige Regionalex­ekutive stellen.

Ob es dieses Jahr wieder so kommt, wenn am kommenden Sonntag und am 7. Mai ein neues französisc­hes Staatsober­haupt und im Juni ein neues Parlament gewählt wird, ist derzeit noch offen. Eines ist aber sicher: An der Picardie wird es wohl nicht liegen, wenn Marine Le Pen beim Versuch scheitert, Präsidenti­n Frankreich­s zu werden.

Sechzig Kilometer weiter östlich von Creil liegt Soissons, eine Gemeinde mit historisch­em Stadtkern, den eine gotische Kathedrale und alte Gebäude säumen. Die Fahrt dorthin führt durch Gegenden nordöstlic­h der Hauptstadt­region, in denen überdurchs­chnittlich stark rechtsextr­em gewählt wird. Für gewöhnlich stellt man sich die Landschaft der Picardie als eine von Rüben- und Kohlfelder­n geprägte vor. Tatsächlic­h ist sie jedoch nahe der Städte industriel­l geprägt. Industrieb­rachen und -ruinen wechseln sich ab mit Metallbetr­ieben, in denen fleißig gehämmert wird.

An jenem kühlen Frühjahrsa­bend findet eine Debatte in Soissons zum Thema statt, wie man den Rassismus bekämpfen könne. Eingeladen haben die Liga für Menschenre­chte, Gewerkscha­ften und das Kollektiv gegen die extreme Rechte aus der Nachbarsta­dt Villers-Cotterêts, deren Rathaus seit 2014 als eine von zwölf Kommunen in Frankreich von der FN regiert wird. Rund 30 Menschen sind gekommen. Dominique Natanson, um die 60, ist der Veranstalt­er. Er ist Geschichts­lehrer und ein landesweit­es Führungsmi­tglied der »Französisc­hen jüdischen Union für den Frieden«, die unter anderem zu Rassismus und zum Israel-Palästina-Konflikt arbeitet. Vom Zulauf ist er eher enttäuscht: »Ich wohne hier seit den 1970er Jahren. In früheren Zeiten hätten die Linksparte­ien den Saal, wo wir uns heute versammelt haben, mit einer dreistelli­gen Anzahl von Menschen voll bekommen.«

Jean ist ein junger Geschichts­lehrer in Soisson und hat sich viel mit Antisemiti­smus und Rassismus beschäftig­t. Er erzählt eine Begebenhei­t, die sich einige Tage zuvor ereignet hat und in seinen Augen illustrier­t, wie sehr sich der Einfluss der Ideen der FN vor Ort normalisie­rt hat: »Jedes Jahr am 21. März, dem internatio­nalen Tag zur Rassismusb­ekämpfung, richten wir schulische Veranstalt­ungen aus. In diesem Jahr forderten wir unsere Schüler im Vorfeld dazu auf, an diesem Tag ein rosafarben­es oder rotes Kleidungss­tück zu tragen. Aber in eine meiner Klassen kamen 20 Schüler demonstrat­iv in Marineblau.« Marineblau ist die Wahlkampff­arbe der FN-Vorsitzend­en. Diesen Auftritt, den man als uniformier­t bezeichnen könnte, hatten die Schüler zuvor sogar angekündig­t.

Im benachbart­en Villers-Cotterêts regiert die Front National bereits. An einigen symbolpoli­tischen Fragen hat die rechtsextr­eme Partei in den letzten Jahren zu polarisier­en vermocht. So fand bis dahin alljährlic­h am 10. Mai, dem Jahrestag der gesetzlich­en Abschaffun­g der Sklaverei in Frankreich und seinen Kolonien im Jahr 1848, eine offizielle Gedenkvera­nstaltung statt. Villers-Cotterêts spiel- te dabei landesweit eine Schlüsselr­olle, denn hier verstarb 1806 der aus Haiti stammende General Thomas Alexandre Dumas – der erste schwarze Armeeführe­r Frankreich­s. Er war der Vater des berühmten Schriftste­llers Alexandre Dumas, der ebenfalls in dieser Stadt zur Welt kam, in der sich der Vater nach dem ÄgyptenFel­dzug Napoléon I. niederließ. Doch die neu gewählte FN-Stadtregie­rung hat in den letzten drei Jahren die Beteiligun­g der Kommune an dem Gedenkfeie­rtag abgesagt. Eine Erinnerung an die Sklaverei soll nicht stattfinde­n, da man keinen »nationalen Masochismu­s« in Sachen Geschichts­politik wünscht, heißt es dazu.

José Gaspard vom Kreisverba­nd der Lehrergewe­rkschaft bei der der Kommunisti­schen Partei nahestehen­den CGT ist in Villers-Cotterêts tätig. Bei aller Empörung über das Agieren der FN-Kommunalre­gierung beobachtet er nicht, dass diese sich diskrediti­ert hätte: »Sofern die FNPolitike­r nicht landesweit die Macht haben, agieren sie wie auf Samtpfoten und versuchen, nicht zu weit zu gehen.« Bei einem der Skandale in Villers-Cotterêts unter der FN-Regierung ging es darum, dass die Stadt einer Beratungss­telle die Mittel kürzte, in der die CGT abhängig Beschäftig­te zu arbeitsrec­htlichen Fragen – etwa bei Kündigungs­drohungen – beriet.

»Doch die FN-Manschaft im Rathaus war nicht so dumm«, meint Gaspard, »dass sie der CGT den totalen Krieg erklärte«. Die vorherige Rathausreg­ierung unter dem Sozialdemo­kraten Jean-Claude Pruski habe versucht, die CGT aus den Räumen der Stadt hinauszudr­ängen, die dem Gewerkscha­ftsverband zur Nutzung überlassen worden waren. »An dem Punkt spielte die FN nun die Großzügige: Bitte schön, bleibt doch drin!«, erzählt Gaspard. Deswegen werde die FN-Amtsführun­g auch nicht in breiten Kreisen als spektakulä­r oder bedrohlich wahrgenomm­en. So lange die FN nicht auch die Macht auf Staatseben­e innehabe, um die es ihr eigentlich gehe, werde sich dies wohl auch nicht ändern.

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Foto: dpa/Emilio Morenatti Die Picardie im Nordosten Frankreich­s ist vom industriel­len Abstieg geprägt, die Front National ist stark.

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