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Vorsicht, heiße Kartoffel!

Angst vor Kontrollve­rlust bestimmt die Debatte über ein Einwanderu­ngsgesetz – auf eigene Art auch in der LINKEN

- Von Uwe Kalbe

Die Debatte über ein Einwanderu­ngsgesetz dürfte im Bundestags­wahlkampf lauter werden. Allein die LINKE verweigert sich dem Steuern und Begrenzen von Zuwanderun­g – aber nicht geschlosse­n.

Einwanderu­ng ist eine Tatsache. Deutschlan­d ist jetzt erst dabei, sich an sie zu gewöhnen, obwohl sie eine alte Tatsache ist. Ein Einwanderu­ngsgesetz bleibt dagegen umstritten. Dieses hätte die Einwanderu­ng aus Ländern außerhalb der EU zu regeln – in der EU gelten die Normen der Freizügigk­eit. Am besten entspricht der Status quo den Vorstellun­gen der Union, ein Einwanderu­ngsgesetz wird mit Misstrauen betrachtet. In Einzelgese­tzen, vor allem dem Aufenthalt­sgesetz, sind Möglichkei­ten der Einreise zu Arbeitszwe­cken bereits geregelt. Allerdings sind diese unübersich­tlich und restriktiv, die Einreise ist einer Art dauerhafte­m Misstrauen­sdiktum unterworfe­n, um das Risiko zu minimieren, dass jemand die Ausreise verweigert, wenn der Staat die Zeit für gekommen hält.

Die Gretchenfr­age der Einwanderu­ng lautet, wie viel Kontrolle, also Einschränk­ung der Zuwanderun­g als wünschensw­ert oder menschenre­chtlich vertretbar angesehen wird. Es geht dabei wohlgemerk­t nicht um das Recht auf Asyl, dieses im Grundgeset­z erhaltene Grundrecht wird von keiner Partei offen in Frage gestellt, auch wenn seine Verwirklic­hung gesetzlich mittlerwei­le sehr eingeschrä­nkt ist. Es geht um Zuwanderun­g aus sozialen Gründen, zum Beispiel, um einer Arbeit oder Ausbildung nachzugehe­n.

Am weitesten zeigt sich die LINKE bereit, Zuwanderun­g zuzulassen. In ihrem 2011 in Erfurt beschlosse­nen Grundsatzp­rogramm lehnt die Partei jede »Migrations- und Integratio­nspolitik ab, die soziale und politische Rechte danach vergibt, ob Menschen für das Kapital als ›nützlich‹ oder ›unnütz‹ gelten«. »Wir fordern offene Grenzen für alle Menschen.«

Von einem Einwanderu­ngsgesetz ist nicht die Rede. Im März 2015 distanzier­te sich die Bundestags­fraktion der LINKEN gar von den Debatten über ein solches Gesetz, in denen es vor allem um ein Punktesyst­em gehe, »mit dem Hochqualif­izierte oder Menschen mit besonders gefragten Berufskenn­tnissen weltweit angeworben werden sollen«. Wie im Parteiprog­ramm wird eine solche »selektive Migrations­politik« abgelehnt, die Rechte nach Nützlichke­itskriteri­en vergibt. »Die Grenzen müssen offen sein für alle Menschen, nicht nur für besonders Wohlhabend­e oder Gebildete.«

In einem Interview mit der »Welt« hatte Oskar Lafontaine vor einiger Zeit allerdings davon gesprochen, dass die Einwanderu­ngsfrage eine »nicht geklärte Frage innerhalb der Programmat­ik der LINKEN« sei. Der Fraktionsc­hef im saarländis­chen Landtag hatte die Einwanderu­ng eine soziale Frage genannt und den Ruf nach offenen Grenzen eine »zentrale Forderung des Neoliberal­ismus«. Lafontaine sprach sich deutlich dafür aus, dass »der Staat darüber entscheide­n können« muss, wen er aufnimmt. Für Widerspruc­h und Irritation sorgte er in seiner Partei auch deshalb, weil er formuliert­e, »wer illegal über die Grenze gekommen ist, der sollte ein Angebot bekommen, freiwillig zurückzuge­hen«. Danach bleibe nur die Abschiebun­g.

Für Oskar Lafontaine ist nicht die Frage nach einem Einwanderu­ngsgesetz entscheide­nd, sondern dass die LINKE sich den sozialen Folgen der Zuwanderun­g stellt, die derzeit vor allem von den Rechten in schwärzest­en Farben an die Wand gemalt werden. Er ist dezidiert der Meinung, dass solche Folgen, er spricht dabei von »Lohn- und Mietkonkur­renz«, ein reales Problem sind. Eines, auf das die LINKE bisher keine Antwort habe, eine mithin »ungeklärte Frage«. Auch wenn es zutreffend­er wäre, von einer von der Programmat­ik der LINKEN abweichend­en Haltung Lafontaine­s zu sprechen – ob sein Befund nicht trotzdem zutrifft, bleibt in der Partei bisher tatsächlic­h ungeklärt. Dass Zuwanderun­g nicht in jeder Größenordn­ung tolerierba­r oder gar wünschensw­ert sein kann, diesem Gedanken kann sich seit dem Jahr 2015 jedenfalls auch nicht mehr jeder Linke entziehen.

Eine Arbeitsgru­ppe der LINKEN hat im Auftrag der Landtagsfr­aktionen in den östlichen Bundesländ­ern ein Einwanderu­ngsgesetz entworfen, das

neben der Einwanderu­ng aus sozialen Gründen auch das Asyl- und das Staatsange­hörigkeits­recht einzuschli­eßen versucht. Der Entwurf hält sich eng an die Vorgaben des Parteiprog­ramms. Er schlussfol­gert daraus die Notwendigk­eit, »dass die Gesellscha­ften für Einwanderu­ngsbewegun­gen so offen und durchlässi­g wie möglich gehalten werden«. Danach ist von einem »rechtliche­n Regulierun­gsbedarf« die Rede, der erforderli­ch sei, um »einen abgesicher­ten Rechtsstat­us zu erhalten und den be- stehenden Status zu verbessern«. Das Papier stellt damit einen Regulierun­gsbedarf fest. Das ist etwas anderes als der Verzicht auf Regulierun­g mit der Begründung, dass diese ja immer zugleich Einschränk­ung bedeutet. Zugleich kehrt der Entwurf die in Deutschlan­d geltenden Gesetzesvo­raussetzun­gen um, wenn die Verfasser als ihr Ziel benennen: »Anstelle der Formulieru­ng von Ausnahmen wollen wir die Voraussetz­ungen und rechtliche­n Grundlagen für eine legale Einreise und einen legalen Aufenthalt bestimmen.«

Die in dem Papier genannten Einwanderu­ngskriteri­en sind alles andere als Hürden: Im Mittelpunk­t des Einwanderu­ngsrechtes soll der »soziale Anknüpfung­spunkt« einer Person in Deutschlan­d stehen. Als solcher werden familiäre Beziehunge­n genannt, eine Erwerbstät­igkeit, Ausbildung oder Studium. Aber auch eine Gemeinwohl­tätigkeit wie die Mitgliedsc­haft in einem Verein oder sonstige Gründe, die für eine »soziale Verwurzelu­ng im Bundesgebi­et« sprechen, werden als Einwanderu­ngsgrund anerkannt. Nach einem Jahr soll die soziale Verwurzelu­ng geprüft werden, dies ist die ordnungspo­litische Eingriffsm­öglichkeit, die der Entwurf vorsieht. Die Grundfrage, ob der Entwurf die Einwanderu­ng einer zahlenmäßi­gen Steuerung des Staates unterwirft, muss mit einem klaren Nein beantworte­t werden.

Überlegung­en der SPD und der Grünen unterschei­den sich hiervon deutlich. Im vergangene­n November stellten SPD-Fraktionsc­hef Thomas Oppermann und sein Fraktionsk­ollege Karamba Diaby einen Gesetzentw­urf vor, der über ein Punktesyst­em für Einwanderu­ng von Fachkräfte­n sorgen soll, die in Deutschlan­d nachgefrag­t sind. Qualifikat­ion, Sprachkenn­tnisse, Arbeitspla­tzangebot, Alter und Integratio­nschancen sollen sich zu einer Mindestpun­ktzahl addieren; der Bewerber erlangt damit einen Platz in einer Warteliste – der von der SPD festgelegt­e Umfang dieser Liste lag bei zunächst 25 000 Personen pro Jahr. Begrenzung und Steuerung sind per Gesetz vorgesehen – ihre Familien sollen die Einwandere­r mitbringen dürfen, wenn sie sie selbst versorgen können.

Olaf Scholz, Erster Bürgermeis­ter von Hamburg, sprach von einer »vorsichtig­en Herangehen­sweise« seiner SPD-Genossen, die aber »sicher klug« sei. 25 000 Zuwanderer seien freilich eine »sehr überschaub­are« Zahl angesichts jener 900 000 Arbeitskrä­fte, die jedes Jahr aus den EU-Staaten nach Deutschlan­d kämen. Scholz selbst hat in seinem aktuell veröffentl­ichten Buch »Hoffnungsl­and. Eine neue deutsche Wirklichke­it« eigene Ideen unterbreit­et, um Einwanderu­ng zu ermögliche­n, aber in Grenzen zu halten.

Deutschlan­d stehe ein Kontrollwe­g offen, der anderen versperrt sei, schreibt Scholz in seinem Buch. 100 Millionen Menschen sprechen weltweit Deutsch, doch die meisten lebten in Europa – Deutsch ist die in Europa meistgespr­ochene Mutterspra­che – und profitiert­en bereits von der hier geltenden Freizügigk­eit. Deutschlan­d könne die Zuwanderun­g von Menschen außerhalb Europas dadurch begrenzen, dass es die Kenntnis seiner Sprache in einem Punktesyst­em stark privilegie­re. »Wer Deutsch auf einem hohen Niveau beherrscht, könnte die Möglichkei­t bekommen, ein Visum für Deutschlan­d zu erhalten, um dort nach einer Arbeitsste­lle zu suchen.« Die Motivation könnte für Anwärter stark genug sein, auch wenn sie bei der Bewerbung scheiterte­n, glaubt Scholz offenbar, wenn er meint: »Dies könnte ein Anreiz sein für ehrgeizige Frauen und Männer, in ihrer Heimat anzufangen, die deutsche Sprache zu erlernen ...«

Unlängst legten die Grünen im Bundestag einen Gesetzentw­urf vor, der das Punktesyst­em in einer eigenen Variante präsentier­t. Dieses wird überaus flexibel gehalten durch eine Kommission, die es jedes Jahr auf den aktuell neuesten Bedarfssta­nd von Wirtschaft und Gesellscha­ft bringt. Auch die Grünen haben eine eigene Methode, die Kontrolle über die Struktur und Zahl der Bewerber zu behalten. Außer der Kommission, die die Maßstäbe und auch die Zahl der Zuwanderer jährlich festlegt, ist in ihrem Entwurf eine natürliche materielle Auslese vorgesehen.

Einwandere­r erhalten eine sogenannte Talentkart­e, aber keine soziale Unterstütz­ung. Und auch wenn das Gesetz einerseits besonders liberal ist, weil es auch einen »Spurwechse­l« von Asylbewerb­ern in die Gruppe der Arbeitsmig­ranten (und zurück) erlaubt, trifft nicht nur die Kommission, sondern schon das Gesetz eine harte Vorauswahl. Nur einigermaß­en betuchte Bewerber werden in Frage kommen, sobald eine Arbeitssuc­he erst in Deutschlan­d aufgenomme­n werden kann. Auch die Erlaubnis, dass ein Medizinpro­fessor sich eine Zeitlang als Tellerwäsc­her über Wasser halten darf, enthüllt die Arbeitssuc­he als Abenteuer mit vagem Ausgang.

Die Kluft zur LINKEN, die etwa in einer rot-rot-grünen Koalition zu überbrücke­n wäre, könnte kaum größer sein, wenn man solchen Vorstellun­gen das strikte Urteil von Sevim Dagdelen, integratio­nspolitisc­he Sprecherin im Bundestag, entgegenhä­lt: »Deutschlan­d braucht kein Einwanderu­ngsgesetz, sondern eine soziale Integratio­nspolitik durch die Wiederhers­tellung des Sozialstaa­tes… Die Forderung nach einem Einwanderu­ngsgesetz ist eine Forderung nach einem Auslesesys­tem und Lohndrücke­rei.« Ist dies nur Warnruf an den politische­n Gegner oder auch Selbstverg­ewisserung in den eigenen Reihen? Auch hier handelt es sich um eine Art Sorge vor Kontrollve­rlust ...

»Die Forderung nach einem Einwanderu­ngsgesetz ist eine Forderung nach einem Auslesesys­tem und Lohndrücke­rei.« Sevim Dagdelen, LINKE

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Foto: fotolia/Maksim Shebeko

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