Dem Kapitalismus etwas Land abtrutzen
Auf einem Hamburger Kongress befassten sich Linke am Beispiel Rojava mit Alternativen zum System
Bei der antikapitalistischen Konferenz »Challenging Capitalist Modernity« beschäftigten sich am Wochenende rund 1200 Teilnehmende mit »Geländegewinnen« gegenüber dem kapitalistischen System.
Der Kapitalismus heute entwickelt sich zum Dauerkriegszustand. »Er gleicht einem Flugzeug, das in spiralförmiger Bahn abstürzt.« Mit dieser Metapher mahnte der marxistische Politikwissenschaftler John Holloway via Videobotschaft, die Produktionsweise abzuschaffen, die Mensch und Natur in einem zusehends engeren Würgegriff hält. Für den »Ausstieg aus der kapitalistischen Megamaschine«, ergänzte der Publizist Fabian Scheidler, sei radikale Aufklärung notwendig: »Wir müssen die Mythen der Moderne entmystifizieren.«
Entsprechend war die Auseinandersetzung mit dem »apokalyptischen Denken« des Kapitalismus eine Säule der Konferenz, auf der die beiden Theoretiker vergangenen Freitag sprachen. Die dreitägige Veranstaltung, initiiert vom »Network for an Alternative Quest« aus kurdischen und kurdistansolidarischen Organisationen, fand im Audimax der Universität Hamburg statt. Sie bildete den dritten Teil einer 2012 gestarteten Konferenzserie mit dem Titel »Die kapitalistische Moderne herausfordern«.
Obwohl oder gerade weil das Damoklesschwert des »Evet« (Ja) zu Erdoğans Referendum über dem Kongress schwebte (das Ergebnis stand bis zu dessen Ende noch nicht fest), forderte Havin Guneser, einer der Organisatoren und Sprecher der »Internationalen Initiative Freiheit für Abdullah Öcalan – Frieden in Kurdistan«, die rund 1200 internationalen Teilnehmer auf, sich nicht auf die schaurige gegenwärtige Lage, sondern »auf die Zukunft« zu fokussieren.
Der Schauspieler Rolf Becker, der 2016 die damals heftig umkämpfte Altstadt von Diyarbakir besucht hatte, appellierte in seinem Grußwort mit einem Diktum Bert Brechts dafür, an der Kritik der politischen Ökonomie festzuhalten: »Wir müssen sagen, dass gefoltert wird, weil die Eigentumsverhältnisse bleiben sollen.«
Auf der Konferenz wurden dann aber vorwiegend postmarxistische Konzepte diskutiert. Entlang der neuen Linie des Demokratischen Konföderalismus und der Genderrevolution auf Basis der Jineoloji (Frauenwissenschaft), die der Gründer der Arbeiterpartei Kurdistan (PKK) Abdullah Öcalan nach seiner Verhaftung 1999 ausgegeben hatte, war mehr von »Geländegewinnen« gegenüber dem kapitalistischen System als von »Re- volution« und »Expropriation der Expropriateure« die Rede.
Debbie Bookchin, Tochter des USamerikanischen Sozialtheoretikers Murray Bookchin, erklärte in Anlehnung an dessen öko-anarchistische Thesen nicht nur die Notwendigkeit der Einrichtung einer antihierarchischen und antipatriarchalen, sondern auch einer ökologischen Gesellschaft, die »Harmonie mit der na- türlichen Welt« herstelle. Vater Bookchin hatte seit Ende der 90er Jahre Öcalans (Um-)Denken erheblich beeinflusst. »Die Konsequenzen des Positivismus sind zerstörerischer als alles Mythologische«, klagte der Autor Quincy Saul die instrumentelle Vernunft der bürgerlichen Wissenschaft an und plädierte für eine »ökosozialistische Internationale«.
Für diese Agenda griffen Saul und auch andere Redner der Konferenz, die eine Naturbeherrschungskritik formulierten, auf die Wurzeln der Analyse der gesellschaftlichen Naturverhältnisse von Karl Marx und Friedrich Engels zurück. Die Urheber des Kommunistischen Manifests wollten (im Gegensatz zu vielen kommunistischen Bewegungen) Kapitalismuskritik nicht zuletzt als Zivilisationskritik verstanden wissen – ein Ansatz, der ab Ende der 1920er Jahre von der Frankfurter Schule aktualisiert und später auch von Öcalan aufgegriffen wurde.
Emotionale Schwerpunkte der Konferenz waren Liveschaltungen in die autonomen Kurdengebiete Rojava und Sindschar. Angehörige der Volksverteidigungseinheiten YPG/ YPJ und der jesidischen YBG berichteten von Hinrichtungen und bewaffneten Angriffen durch den IS und der von Deutschland hochgerüsteten Peschmerga. »Die jesidischen Frauen organisieren sich, treffen selbstständig ihre Entscheidungen und kämpfen für ihre Rechte«, versprach eine YBG-Milizionärin. Das Auditorium antwortete mit stehenden Ovationen; viele Teilnehmer skandierten die Parole der kurdischen Frauenbewegung »Jin, Jiyan, Azadi« (Frauen, Leben, Freiheit).
Klare Botschaften waren auch vor dem Audimax zu vernehmen. Internationale Linke forderten auf Bannern Solidarität mit den hungerstreikenden politischen Gefangenen in der Türkei.
»Wir müssen sagen, dass gefoltert wird, weil die Eigentumsverhältnisse bleiben sollen.« Rolf Becker Schauspieler