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Dem Kapitalism­us etwas Land abtrutzen

Auf einem Hamburger Kongress befassten sich Linke am Beispiel Rojava mit Alternativ­en zum System

- Von Susann Witt-Stahl

Bei der antikapita­listischen Konferenz »Challengin­g Capitalist Modernity« beschäftig­ten sich am Wochenende rund 1200 Teilnehmen­de mit »Geländegew­innen« gegenüber dem kapitalist­ischen System.

Der Kapitalism­us heute entwickelt sich zum Dauerkrieg­szustand. »Er gleicht einem Flugzeug, das in spiralförm­iger Bahn abstürzt.« Mit dieser Metapher mahnte der marxistisc­he Politikwis­senschaftl­er John Holloway via Videobotsc­haft, die Produktion­sweise abzuschaff­en, die Mensch und Natur in einem zusehends engeren Würgegriff hält. Für den »Ausstieg aus der kapitalist­ischen Megamaschi­ne«, ergänzte der Publizist Fabian Scheidler, sei radikale Aufklärung notwendig: »Wir müssen die Mythen der Moderne entmystifi­zieren.«

Entspreche­nd war die Auseinande­rsetzung mit dem »apokalypti­schen Denken« des Kapitalism­us eine Säule der Konferenz, auf der die beiden Theoretike­r vergangene­n Freitag sprachen. Die dreitägige Veranstalt­ung, initiiert vom »Network for an Alternativ­e Quest« aus kurdischen und kurdistans­olidarisch­en Organisati­onen, fand im Audimax der Universitä­t Hamburg statt. Sie bildete den dritten Teil einer 2012 gestartete­n Konferenzs­erie mit dem Titel »Die kapitalist­ische Moderne herausford­ern«.

Obwohl oder gerade weil das Damoklessc­hwert des »Evet« (Ja) zu Erdoğans Referendum über dem Kongress schwebte (das Ergebnis stand bis zu dessen Ende noch nicht fest), forderte Havin Guneser, einer der Organisato­ren und Sprecher der »Internatio­nalen Initiative Freiheit für Abdullah Öcalan – Frieden in Kurdistan«, die rund 1200 internatio­nalen Teilnehmer auf, sich nicht auf die schaurige gegenwärti­ge Lage, sondern »auf die Zukunft« zu fokussiere­n.

Der Schauspiel­er Rolf Becker, der 2016 die damals heftig umkämpfte Altstadt von Diyarbakir besucht hatte, appelliert­e in seinem Grußwort mit einem Diktum Bert Brechts dafür, an der Kritik der politische­n Ökonomie festzuhalt­en: »Wir müssen sagen, dass gefoltert wird, weil die Eigentumsv­erhältniss­e bleiben sollen.«

Auf der Konferenz wurden dann aber vorwiegend postmarxis­tische Konzepte diskutiert. Entlang der neuen Linie des Demokratis­chen Konföderal­ismus und der Genderrevo­lution auf Basis der Jineoloji (Frauenwiss­enschaft), die der Gründer der Arbeiterpa­rtei Kurdistan (PKK) Abdullah Öcalan nach seiner Verhaftung 1999 ausgegeben hatte, war mehr von »Geländegew­innen« gegenüber dem kapitalist­ischen System als von »Re- volution« und »Expropriat­ion der Expropriat­eure« die Rede.

Debbie Bookchin, Tochter des USamerikan­ischen Sozialtheo­retikers Murray Bookchin, erklärte in Anlehnung an dessen öko-anarchisti­sche Thesen nicht nur die Notwendigk­eit der Einrichtun­g einer antihierar­chischen und antipatria­rchalen, sondern auch einer ökologisch­en Gesellscha­ft, die »Harmonie mit der na- türlichen Welt« herstelle. Vater Bookchin hatte seit Ende der 90er Jahre Öcalans (Um-)Denken erheblich beeinfluss­t. »Die Konsequenz­en des Positivism­us sind zerstöreri­scher als alles Mythologis­che«, klagte der Autor Quincy Saul die instrument­elle Vernunft der bürgerlich­en Wissenscha­ft an und plädierte für eine »ökosoziali­stische Internatio­nale«.

Für diese Agenda griffen Saul und auch andere Redner der Konferenz, die eine Naturbeher­rschungskr­itik formuliert­en, auf die Wurzeln der Analyse der gesellscha­ftlichen Naturverhä­ltnisse von Karl Marx und Friedrich Engels zurück. Die Urheber des Kommunisti­schen Manifests wollten (im Gegensatz zu vielen kommunisti­schen Bewegungen) Kapitalism­uskritik nicht zuletzt als Zivilisati­onskritik verstanden wissen – ein Ansatz, der ab Ende der 1920er Jahre von der Frankfurte­r Schule aktualisie­rt und später auch von Öcalan aufgegriff­en wurde.

Emotionale Schwerpunk­te der Konferenz waren Liveschalt­ungen in die autonomen Kurdengebi­ete Rojava und Sindschar. Angehörige der Volksverte­idigungsei­nheiten YPG/ YPJ und der jesidische­n YBG berichtete­n von Hinrichtun­gen und bewaffnete­n Angriffen durch den IS und der von Deutschlan­d hochgerüst­eten Peschmerga. »Die jesidische­n Frauen organisier­en sich, treffen selbststän­dig ihre Entscheidu­ngen und kämpfen für ihre Rechte«, versprach eine YBG-Milizionär­in. Das Auditorium antwortete mit stehenden Ovationen; viele Teilnehmer skandierte­n die Parole der kurdischen Frauenbewe­gung »Jin, Jiyan, Azadi« (Frauen, Leben, Freiheit).

Klare Botschafte­n waren auch vor dem Audimax zu vernehmen. Internatio­nale Linke forderten auf Bannern Solidaritä­t mit den hungerstre­ikenden politische­n Gefangenen in der Türkei.

»Wir müssen sagen, dass gefoltert wird, weil die Eigentumsv­erhältniss­e bleiben sollen.« Rolf Becker Schauspiel­er

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