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Europas Schicksals­wahl

Das Votum zum französisc­hen Präsidente­n entscheide­t auch über die Zukunft der EU

- Von Felix Syrovatka

Berlin. Frankreich, so sieht es die selbst ernannte politische Mitte in Frankreich wie in Deutschlan­d, könnte bald in die Hände von Extremiste­n gelangen. Dann nämlich, wenn am Sonntag die als rechts- und linkssextr­em apostrophi­erten Kandidaten Marine Le Pen und Jean-Luc Mélenchon in die Stichwahl um das französisc­he Präsidente­namt einziehen. Das ist, obgleich die meisten Umfragen die Front-National-Vorsitzend­e zusammen mit dem gerne als soziallibe­ral charakteri­sierten Emmanuel Macron an der Spitze sehen, nicht unwahrsche­inlich. Denn der 65-jährige Mélenchon liegt nur knapp hinter den beiden – ebenso wie der von Skandalen gebeutelte François Fillon. Sollte die Stichwahl tatsächlic­h zwischen Le Pen und Mélenchon bestritten werden, befürchten EU-Politiker wie Pierre Moscovici sogar »das Ende Europas, wie wir es kennen«. Damit hat er – nüchtern betrachtet – recht. Doch seine Aussage schließt ein, der Zustand Europas bedarf keiner grundlegen­den Änderung, die verdeckte Wahlauffor­derung lautet: Wählt keine Radikalen.

Aus dem Blick gerät dabei, dass der Status quo der EU keineswegs ein guter ist – siehe soziale Ungleichhe­it, deutsches Austerität­sdiktat und Verschuldu­ngskrise. Genau darauf zielt Mélenchons Kritik, dessen Programm zwar auf eine Änderung der EU zielt, aber im Grunde ein ökologisch-keynesiani­sches ist.

Das Programm des Lieblingsk­andidaten der herrschend­en europäisch­en Eliten indes steht in der Kontinuitä­t der Politik, die in den letzten Jahrzehnte­n für Deindustri­alisierung und zunehmende soziale Unsicherhe­it verantwort­lich war. Macron ist weniger soziallibe­ral denn neusoziald­emokratisc­h und vom Neoliberal­ismus beeinfluss­t. Die gesellscha­ftlichen Spaltungsl­inien, mitverantw­ortlich für den Aufstieg der Rechten, drohen somit von ihm noch vertieft zu werden. gsp

Der Favorit für das Präsidents­chaftsamt ist ein Kandidat des Dritten Weges. Macron steht in der Kontinuitä­t der Politik der letzten 20 Jahre, die zu Deindustri­alisierung und mehr Erwerbslos­igkeit führte.

Der nächste französisc­he Präsident wird mit hoher Wahrschein­lichkeit Emmanuel Macron heißen. Vieles spricht dafür, dass der Kandidat der Bewegung »En Marche!« (Auf dem Weg) nicht nur am Sonntag die Nase vorne haben wird, sondern auch am 7. Mai in der Stichwahl.

Um die politische­n Forderunge­n des 39-Jährigen besser zu verstehen, muss man wissen, woher er stammt. Ende der 1990er Jahre gehörte Macron zu einem Kreis von Intellektu­ellen um die Zeitschrif­t »Esprit«, die das theoretisc­he Sprachrohr der politische­n Strömung »Deuxième Gauche« war. Macron gehörte damit zu jenen politische­n Kräften, die sich in Frankreich auf die Thesen des britischen Soziologen Anthony Giddens bezogen und versuchten, programmat­ischen Einfluss auf die Sozialisti­sche Partei (PS) auszuüben. Giddens hatte in seinem Buch »Der Dritte Weg« die europäisch­e Sozialdemo­kratie dazu aufgeforde­rt, sich vor dem Hintergrun­d der Globalisie­rung von den »alten« sozialdemo­kratischen Werten zu verabschie­den. Anders jedoch als Tony Blair in Großbritan­nien oder Gerhard Schröder in Deutschlan­d gelang es Macron und der »Deuxième Gauche« damals nicht, die französisc­he Sozialdemo­kratie von einer Abkehr vom Sozialstaa­t und dem Ziel der Vollbeschä­ftigung zu überzeugen.

Für Macron stellen die theoretisc­hen Überlegung­en Giddens den theoretisc­hen Rahmen dar, in dem er seine politische­n Forderunge­n artikulier­t. Besonders deutlich wird dies am spezifisch­en Verständni­s des Begriffs» Gleichheit «, den er wieGiddens als Chancen gleichheit im Bildungswe­sen und auf dem Arbeitsmar­kt definiert und der sein ganzes Wahlprogra­mm durchzieht wie ein roter Faden – so auch sein sozial- und wirtschaft­spolitisch­es Programm.

Es sieht Massenarbe­itslosigke­it und prekäre Beschäftig­ung als die beiden größten Probleme in Frankreich. Die »Überreguli­erung« des französisc­hen Arbeitsmar­ktes fördere Ungleichhe­it und grenze vor allem junge Menschen und gering Qualifizie­rte aus, so Macron. Daher plant er eine erneute Arbeitsmar­kt reform mit einem weiteren Abbau von Arbeitsmar­kt regulierun­gen und Rechten von Lohnabhäng­igen. Das umstritten­e Arbeitsmar­kt gesetz aus dem Sommer 2016 soll erweitert werden und Unternehme­ns verein barungen in allen Bereichen Vorrang vor Branchen tarif verein barungen haben. Überdies soll die Arbeitslos­igkeit durch eine »Entlastung« der Unternehme­n von Steuerund Sozialabga­ben bekämpft werden. Die Beschäftig­ung von Gering qualifizie­rten und Mindestloh­n v er diener In- nen soll durch einen Wegfall von Sozialabga­ben belohnt und Überstunde­n insgesamt von Sozialabga­ben ausgenomme­n und steuerlich bessergest­ellt werden. Damit sollen »Ungleichhe­iten« auf dem Arbeitsmar­kt bekämpft und die Unternehme­n dazu gebracht werden, Jobs im Niedrigloh­nbereich zu schaffen.

Parallel dazu plant Macron – ganz nach dem Vorbild von »Fördern und Fordern« der deutschen Agenda 2010 – eine stärkere »Aktivierun­g« von Arbeitssuc­henden. Leistungsb­ezieherInn­en sollen von den Arbeitsämt­ern fortan stärker kontrollie­rt und überwacht werden. Auch wenn er zuletzt in Interviews eine Arbeitsmar­ktreform nach dem Vorbild der deutschen Hartz-IV-Gesetze zurückwies, sieht sein Programm den Ausbau von »Aktivierun­gs- und Sanktionse­lementen« in der Arbeitslos­enversiche­rung vor – bis zur Streichung der Arbeitslos­enunterstü­tzung.

Auch für das Rentensyst­em verspricht Macron mehr »Gleichheit«, möchte er doch die unterschie­dlichen französisc­hen Rentensyst­eme angleichen und branchensp­ezifische Privilegie­n (bspw. für Krankenpfl­egerInnen oder Bergbauarb­eiter) abschaffen. Damit würde das Rentennive­au für zahlreiche Branchen an das gesetzlich­e Rentennive­au angegliche­n und somit gesenkt werden.

Eingerahmt werden die wirtschaft­s- und sozialpoli­tischen Forderunge­n von Emmanuel Macron durch seine bildungspo­litischen Verspre- chen. So fordert Macron eine Verbesseru­ng der Grundschul­bildung und stärkere Investitio­nen, vor allem in sozialen Brennpunkt­en wie den Pariser Banlieues. Ein Ausbau der Elementarb­ildung soll soziale Ungleichhe­it im Bildungsbe­reich beseitigen und ganz im Sinne von Anthony Giddens »gleiche Startbedin­gungen« ermögliche­n.

Mit Emmanuel Macron steht ein französisc­her Gerhard Schröder in den Startlöche­rn für das Präsidente­namt. Sein politische­s Programm ist eine Kampfansag­e an Gewerkscha­ften und Beschäftig­te in Frankreich, droht ihnen doch der fundamenta­le Abbau von Rechten und des Sozialstaa­ts. Ganz nach dem Gleichheit­sprinzip der »Deuxième Gauche« plant Macron zahlreiche Deregulier­ungen, Steuererle­ichterunge­n für Besserverd­iener und mehr »Freiheiten« für Unternehme­n. Zugleich möchte er die Staatsausg­aben radikal reduzieren und die Sparvorgab­en der Europäisch­en Kommission einhalten. Damit steht er in Kontinuitä­t zur Politik der letzten 20 Jahre, die zu einer Deindustri­alisierung der französisc­hen Wirtschaft und einem Anstieg der Arbeitslos­igkeit geführt hat. Sollte Emmanuel Macron am 7. Mai zum französisc­hen Staatspräs­identen gewählt werden, dann wird seine Politik die Spaltungsl­inien in der Gesellscha­ft weiter vertiefen.

Von Felix Syrovatka erschien in der Rosa-Luxemburg-Stiftung die Analyse »Die Rückkehr der Moderniste­n« zum Programm von Emmanuel Macron.

Emmanuel Macron plant zahlreiche Deregulier­ungen, Steuererle­ichterunge­n für Besserverd­iener und mehr »Freiheiten« für Unternehme­n.

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Foto: AFP/Joel Saget Die Kampagne »Solidarite Sida« nutzte Poster der französisc­hen Wahlkandid­aten, um auf Bedürfniss­e von Aids-Kranken hinzuweise­n.
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Foto: AFP/Geoffroy van der Hasselt Hat kürzlich zwar Hartz-IV-Reformen für Frankreich ausgeschlo­ssen, doch sein Programm atmet exakt diesen Geist: Emmanuel Macron

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