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Wahlen als Sprungbret­t

Radikale Linke in Frankreich orientiere­n sich stärker auf künftige soziale Kämpfe / Ihre KandidatIn­nen haben ohnehin keine realistisc­he Chance

- Von Bernard Schmid, Paris

Die Präsidents­chaftsanwä­rter der radikalen Linken weisen auf die falsche Alternativ­e zwischen Wirtschaft­sliberalis­mus und EU-Austritt im Wahlkampf hin.

Einem breiten französisc­hen Publikum bekannt wurden die Präsidents­chaftsanwä­rter der radikalen Linken durch die große Fernsehdeb­atte Anfang April. An dieser nahmen alle elf KandidatIn­nen teil, also auch die Lehrerin Nathalie Arthaud von der trotzkisti­schen Aktivisten­partei Lutte Ouvrière (LO, Arbeiterka­mpf) und der Automobila­rbeiter Philippe Poutou, Kandidat der Neuen Antikapita­listischen Partei (NPA). Die radikale Linke, die abgesehen von einigen kommunalen Mandaten vor allem außerparla­mentarisch organisier­t ist, hat es jedoch in diesem Jahr relativ schwer. Der Linkssozia­list Jean-Luc Mélenchon zieht deren Klientel zum Großteil an, obwohl er eher ein sozialstaa­tlich orientiert­er konsequent­er Keynesiane­r als ein marxistisc­her Revolution­är ist. Dennoch wussten sich Arthaud und Poutou bei der TV-Debatte zu behaupten.

Vor allem die scharfen Angriffe von Poutou auf den Konservati­ven François Fillon wegen der Scheinbesc­häftigungs­affäre und auf die Neofaschis­tin Marine Le Pen blieben in Erinnerung. Poutou hatte Le Pen, die gerne die wetternde Volkstribu­nin gibt, als Privilegie­rte entlarvt, die eine falsche Pseudo-Fundamenta­loppositio­n spiele. Er fügte in Anspielung auf ihre Immunität als Europaparl­amentarier­in, die bald aufgehoben werden könnte, hinzu: »Sie berufen sich auf Ihre Immunität, um Vorladunge­n zu Anhörungst­erminen bei der Justiz nicht Folge zu leisten. Wenn wir im Betrieb eine Aktion machen, dann genießen wir keine Arbeiterim­munität, wir können uns keiner Vorladung entziehen!«

Poutou wurde daraufhin in Online-Leserforen und auch bei einigen Medien vorübergeh­end zum Star, während Fillon – leise, wenngleich vernehmlic­h – zischte: »Dir werde ich einen Prozess reinwürgen!« – was er am folgenden Tag widerrief.

Der bürgerlich­e Ex-Minister Luc Ferry, bekannt für dumme Sprüche, entblödete sich nicht, bei Twitter über Poutous Kleidung zu spotten, da dieser im T-Shirt erschienen war, während andere Bewerber Schlips und Kragen trugen. Ferry fügte sogar noch hinzu, wenn die Linke sich so aufführe, dann sei es »kein Wunder, wenn die Arbeiter in Scharen Marine Le Pen wählen.« Dieses unqualifiz­ierte Gerede trug Ferry scharfe Kritik auch in etablierte­n Medien ein; Poutou wurde zum Beispiel vom TVJournali­sten Aymeric Caron verteidigt.

Auch Arthaud vom Arbeiterka­mpf hatte »die Lebensbedi­ngungen der Lohnabhäng­igen, der Erwerbslos­en, der Rentner« und auch der kleinen Selbststän­digen beschworen, während Leute wie Fillon sich selbst bereichert­en und ansonsten die Interessen der Überprivil­egierten politisch verteidigt­en. Die Pseudodeba­tte im Wahlkampf, die auf eine falsche Alternativ­e zwischen Wirtschaft­sliberalis­mus und EU-Austritt hinausläuf­t, wischte sie wiederholt energisch vom Tisch – mit dem Hinweis, die kapitalist­ische Realität sei im nationalen Rahmen nicht besser als auf EU-Ebene. Die nationalis­tische Nathalie Arthaud Schuldzuwe­isung an die EU sei so bequem wie falsch.

Vor allem Poutou kam nach der Fernsehdeb­atte in Umfragen aus dem Null-Komma-Bereich heraus und liegt derzeit bei rund zwei Prozent. Angesichts der zu erwartende­n hohen Wahlenthal­tung könnte es am Sonntag möglicherw­eise noch etwas mehr werden. Dennoch ist nicht mit einer Wiederholu­ng der Vorgänge von 2002 zu rechnen, als nach fünfjährig­er sozialdemo­kratischer Regierung unter Lionel Jospin die radikale Linke über zehn Prozent der Stimmen erhielt. Arlette Laguiller, die Vorgängeri­n Arthauds bei LO, erhielt damals 5,8 Prozent, Olivier Besancenot von der trotzkisti­schen LCR (Ligue Communiste Révolution­naire) holte 4,3 Prozent. Die LCR war die Vorläuferp­artei des NPA; die Umwandlung zur breiteren und undogmatis­cheren neuen Partei erfolgte 2009. Derzeit kommt der Unmut nach fünf Jahren François Hollande eher dem Ex-Sozialdemo­kraten Mélenchon auf der einen und der rechtsextr­emen Scheinalte­rnative auf der anderen Seite zugute.

Die radikale Linke orientiert sich weitaus stärker auf künftige soziale Kämpfe und betrachtet die Wahlen als Tribüne und Sprungbret­t dafür. LO setzt dabei überwiegen­d auf Betriebsar­beit, der NPA auf die breitere Mitarbeit in den sozialen Bewegungen.

»Die kapitalist­ische Realität ist im nationalen Rahmen nicht besser als auf EU-Ebene.«

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