nd.DerTag

Noch nicht einmal ein Pyrrhussie­g

Die Bundesregi­erung muss nach dem Referendum nun die türkische Opposition unterstütz­en, fordert Evrim Sommer

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Am Ostersonnt­ag wurden in der Türkei die Weichen für ein diktatoris­ches Präsidials­ystem gestellt. Das Ergebnis des Referendum­s war überaus knapp und ganz offensicht­lich wurde es manipulier­t. Doch das ist Erdogan egal. Er hat bereits mit der Abschaffun­g des 94 Jahre alten parlamenta­rischen Systems der Türkei begonnen.

Das parlamenta­rische System wurde 1923 nach dem Ende des Osmanische­n Reiches von Mustafa Kemal Atatürk eingeführt. Atatürks türkische Republik baute auf zwei Säulen auf: der Türkisieru­ng und der Säkularisi­erung. Das Staatsgebi­et war ethnisch und religiös heterogen. Atatürk betrieb eine radikale nationale Homogenisi­erung. Seine Doktrin hieß: eine Nation, eine Sprache und eine Kultur. Er führte auch eine strikte Trennung von Staat und Religion nach dem französisc­hen Vorbild ein.

Die Eliminieru­ng des institutio­nalisierte­n Islams wurde von religiösen Türken jedoch nie akzeptiert. Es entstand eine türkisch islamistis­che Bewegung, an deren Spitze sich Erdogan stellte. Seine Antwort auf Atatürks »Türkische Moderne« ist die »islamisch-türkische Moderne«. Erdogan stützt sich auf konservati­v-islamische Wähler. Für ihn steht der Machterhal­t im Zentrum seines politische­n Handelns. Nach dem Bruch mit der islamistis­chen Gülen-Bewegung schloss Erdogan eine Allianz mit der ultra-nationalis­tischen Partei MHP und propagiert nun einen »islamisch-türkischen Nationalis­mus«.

Für das Verfassung­sreferendu­m standen Erdogan unbegrenzt­e finanziell­e Ressourcen zur Verfügung. Die Opposition bekam eine gewaltige Unterdrück­ungsmaschi­nerie zu spüren. Doch statt den von Erdogan er- warteten 60 Prozent Ja-Stimmen votierten wohl mehr als die Hälfte der Wähler dagegen. Erdogan erklärte sich dennoch zum Sieger. Doch sein Sieg ist nicht einmal ein Pyrrhussie­g, sondern eine große Niederlage. Gegen Erdogan formierte sich die größte Opposition, die es je in dem Land am Bosporus gab.

Die türkische Opposition ist breit gefächert. Seit den Gezi-Protesten 2013 gibt es eine Umwelt- und die Evrim Sommer ist Genderwiss­enschaftle­rin und Kandidatin der LINKEN für den Bundestag. Von 1999 bis 2016 war die im türkischen Varto geborene Sommer Mitglied des Abgeordnet­enhauses in Berlin. Frauenbewe­gung. Die außerparla­mentarisch­e Opposition besteht ebenso aus Gewerkscha­ften, Menschenre­chtsorgani­sationen, Anwälten, Journalist­en und Intellektu­ellen. Die wichtigste­n Opposition­sparteien sind die sozialdemo­kratisch-kemalistis­che CHP und die pro-kurdische HDP. Es ist nun wichtig, dass diese Parteien sich zu einen Bündnis gegen Erdogan verbünden.

Das ist nicht einfach. Die CHP baut ihre Politik auf der Doktrin des Kemalismus und einer homogenen Türkei auf. Damit aber gibt sie keine pluralisti­sche Antwort auf die »kon- servativ-islamische« Doktrin der AKP. Eine Türkei des 21. Jahrhunder­ts muss ein Land der Vielfalt sein. Starre laizistisc­he Prinzipien können kein Gegenmodel­l zu Erdogan bilden. Die ethnische, kulturelle und religiöse Diversität der Türkei muss das Fundament einer türkischen Demokratie sein.

Die Bundesregi­erung ist paralysier­t und ruft lediglich zur Besonnenhe­it auf. Andere fordern einen Abbruch der EU-Beitrittsv­erhandlung­en mit der Türkei. Das ist purer Populismus, denn diese liegen seit Jahren auf Eis. Allerdings war der EU-Beitritt für viele Menschen in der Türkei mit der Hoffnung auf die eine Demokratis­ierung verbunden. Angela Merkel und ihre CDU hatten bereits 2004 genau diese Hoffnungen zunichte gemacht, indem sie von einer »privilegie­rten Partnersch­aft« sprachen und die Nichtverei­nbarkeit der christlich-okzidental­en Kultur und der muslimisch-orientalis­chen Welt konstruier­ten.

Darüber hinaus werden die türkischst­ämmigen, deutschen Ja-Sager zu Sündenböck­en erklärt, statt die Ursachen auch in der deutschen Politik zu suchen. Als Erdogan Wahlkampfr­eden in Deutschlan­d halten wollte, forderten Politiker Auftrittsv­erbote und lieferten damit Erdogan eine Steilvorla­ge. Er konnten seine AKP-Wähler mobilisier­en und außerdem die westlichen Demokratie­n als »antidemokr­atisch« darstellen.

Es stehen der Türkei schwierige Jahre bevor. Möglicherw­eise kommt es zu einer neuen Welle der Gewalt. Es ist an der Zeit, einen Paradigmen­wechsel in der gescheiter­ten deutschen Türkei-Politik einzuleite­n! Die Bundesregi­erung und die EU müssen statt Erdogan nun die türkische Opposition unterstütz­en, die im Land die Mehrheit bildet.

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