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Arbeit 4.0 – die »smarte« Form der Ausbeutung

In seinem neuen Buch stellt Matthias Martin Becker die soziale Frage der Digitalisi­erung im Betrieb

- Von Marcus Schwarzbac­h

Auch wenn noch keiner wissen kann, in welche Richtung sich die Arbeit in den »smarten« Betrieben entwickeln wird. Eines ist klar: Gravierend­e Veränderun­gen für die Beschäftig­ten stehen an.

Eine neue industriel­le Revolution steht an – so suggeriere­n es die Stellungna­hmen der Bundesregi­erung zur »Arbeit 4.0«. Der Siemens-Konzern sieht die »Industrie 4.0« in seiner digitalen Vorzeigefa­brik in Amberg schon realisiert. Alle Bauteile lassen sich identifizi­eren, jedes Produkt wird digital erfasst. Einzelne Arbeitssch­ritte sind per Knopfdruck nachvollzi­ehbar: Mit welchem Drehmoment wurden Teile zusammenge­fügt, bei welcher Temperatur hat die Maschine gelötet? Es geht dabei nicht nur um die Fabrik selbst, vielmehr sollen die gesamte Produktion und die vor- und nachgelage­rten Prozesse miteinande­r vernetzt werden. Dazu gehören neben Maschinen und Robotern auch Logistik-, Lager- oder Planungssy­steme.

Von einer »reibungsfr­eien« Produktion, »in der Menschen und Maschinen so leicht angeordnet werden wie die Symbole auf einem Bildschirm«, träumen die Unternehme­n. Für den Journalist­en Matthias Martin Becker ist diese Entwicklun­g nicht überrasche­nd, denn »die Geschichte des Kapitals« ist »eine Geschichte der Rationalis­ierung«. »Stillstand kann es da nicht geben«, so Becker.

Er entwirft unterschie­dliche Szenarios der Digitalisi­erung von Betrieben, denn im Moment ist noch nicht sicher, in welche Richtung sich die Organisati­on von Arbeit entwickeln wird. Im ersten Szenario müssen Arbeitende regelmäßig qualifizie­rt werden. Sie erhalten durch die Technik im Betrieb Informatio­nen, zu deren Verarbeitu­ng sie beispielsw­eise ein Smartphone nutzen. Trotz der Nutzung digitaler Werkzeuge, entscheide­n die Beschäftig­ten eigenständ­ig.

Bei der zweiten Variante steuert die Maschine den Menschen. Beschäftig­te werden immer perfekter überwacht. Sie werden nur kurz angelernt und niedrig bezahlt. Doch bei unterschie­dlichen Szenarios ist eines klar: Arbeitsplä­tze werden sich radikal verändern.

Doch nicht alles, was angedacht ist, wird auch Realität, das zeigen frühere Beispiele angebliche­r technische­r Revolution­en. »Der Kardinal- fehler der neuen Automatisi­erungsdeba­tte besteht darin, technische Möglichkei­ten mit tatsächlic­hen Arbeitspro­zessen zu verwechsel­n«, schreibt Becker. Bereits in den 1980er Jahren wurde die computerge­steuerte, menschenle­ere Fabrik der »Ganzheitli­chen Produktion­ssysteme« (GPS) propagiert, Jahre später war von Computer Integrated Manufactur­ing (CIM) die Rede – der angekündig­te Quantenspr­ung blieb aber beide Male aus.

Ein Dilemma der Arbeit in digitalisi­erten Betrieben liegt bei den Anforderun­gen, die an die Beschäftig­ten gestellt werden: Menschen können von ihrer Anlage her weit weniger Daten verarbeite­n und weniger Komplexitä­t berücksich­tigen als Maschinen – zugleich aber wird von ihnen erwartet, Fehler der technologi­schen Systeme schnell zu korrigiere­n. Dies können sie aber immer weniger, weil ihnen durch die Automatisi­erung eigene Erfahrunge­n mit der Prozessste­uerung und damit Kompetenze­n verloren gehen.

Smartphone­s finden vielfältig­en Einsatz im privaten und geschäftli­chen Umfeld. Sie dienen als Navigation­sgerät, Spielkonso­le, Kommunikat­ionsplattf­orm und Informatio­nsquelle. Die Industrie 4.0 wird diese Technik verstärkt im Betrieb zur Arbeitsste­uerung einsetzen.

Mit der weiterentw­ickelten mobilen Assistenz kann der Mensch aber nicht nur mit der Produktion­ssteuerung interagier­en. Dieselbe technische Errungensc­haft kann der radikalen Kontrolle dienen, insofern Unternehme­n sie zum Anlass nehmen könnten, auf eine Erreichbar­keit auch in der Freizeit zu drängen. Technisch möglich wäre eine totale Überwachun­g des Arbeitnehm­ers, der jederzeit ortbar ist und dessen Verhalten dokumentie­rt werden kann. Mit einer permanente­n Verfügbark­eit, verbunden mit einem Gefühl der mangelnden Kontrolle über technische Prozesse, geht eine hohe psychische Beanspruch­ung einher, so Becker. Deshalb sollte mit dem Einsatz der Smarttechn­ik in der Produktion dringend eine Begrenzung der Arbeitszei­t einhergehe­n, um den zunehmende­n Stress zu kompensier­en. Wie wichtig eine Debatte dazu ist, zeigt Beckers lesenswert­es Buch.

Matthias Martin Becker: Automatisi­erung und Ausbeutung – Was wird aus der Arbeit im digitalen Kapitalism­us?. Promedia Verlag. 239 S., kartoniert / broschiert.

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