Die Verräter haben recht
DDR-Dramatik am Berliner Ensemble: Brasch, Müller, Braun
Was ist utopisch? Jene beißende Frage nicht zu scheuen, die uns selber in frage stellt – das ist utopisch. Utopisch ist also der unerbittlich ehrliche Blick auf unser größtes Elend: nicht begreifen zu wollen, dass Dialektik wehtut. Weh tut alles, was an den Kern unserer Kräfte geht, um sie freizulegen. Der Kern unserer Kräfte: die Trägheit in uns, die Tatgier in uns. Der Feind ist nie der andere, der Feind bist du dir selber. Sieh dich doch an: zu klein für die große Idee, zu groß für den Respekt vor den kleinen Abmessungen, zu furchtlos im Vorwärts, zu feige für den Rückzug. Der Mensch räumt auf, räumt ab, räumt um – nur, um nicht einräumen zu müssen: Er selber ist es, der sich im Wege steht.
Drei Texte dreier deutscher Dichter als Beleg. »Sindbad und Kassandra« (aus dem Stück »Papiertiger«) von Thomas Brasch, »Der Mann im Fahrstuhl« (aus dem Stück »Der Auftrag«) von Heiner Müller, »Der Eisenwagen« (aus dem Stück »Lenins Tod«) von Volker Braun – gelesen am Berliner Ensemble. Zum 42. Mal stellte das BE – unter der Leitung von Manfred Karge und Hermann Wündrich – vergessene oder verbotene DDR-Dramatik vor. Erstaunlich die Resonanz, über eine Laufzeit von fünf Jahren. Die Spurrinne dieser Reihe führt uns hin zum Zuversichtsschwung, zum Trotz, zur Tapferkeit, zur Traurigkeit des Einzelnen und den Zurichtungen und Zumutungen der Gesellschaft. DDR als Baustelle und Provinz, als Idee und Ideenvernich-tung. Lesungen als Beispiel für den schönen, unverzichtbaren Kassiber-wert der Kunst – denn Historiker vereinfachen oft genug, um Gesinnung zu transportieren, also letztlich zu lügen; das Theater aber vereinfacht, um zu verstehen.
Bei Brasch: Sindbad, der Seefahrer. Felix Tittel, Stephan Schäfer, Anatol Käbisch, Fabian Stromberger und (mit vitaler Zartheit und wehem Härtehauch) Celina Rongen: Eine schwüle Hymne auf den Untergang dessen, was »weiß und groß und glatt« ist, hier eine Stadt, aber wohl eher das, was wir die hybride Zivilisation nennen. Kassandra, das Mädchen in der Schönhauser Allee, das beim Tode von Jimi Hendrix mit schwarzen Strümpfen an ihre Drehbank geht und irgendwann in den UBahn-Schacht steigt, »aus dem Dunkel blinkt das Scheinwerferpaar«.
Müllers Mann im Fahrstuhl: auf dem Weg hoch zum Chef. Gehetzte Unterwürfigkeit eines Aufsteigenden wie Gebuckelten, plötzlich ausgesetzt einer gespenstischen Fantasie, die ins Frontgebiet zwischen »Erster« und »Dritter Welt« führt. Dramaturg Hermann Beil liest das mit einem jagend lauernden, grandios komischen Beben. Und Roman Kaminski erzählt gefügt knarzig und mit gegerbter Getragenheit die Geschichte vom Leben in einem Eisenwagen: starke Metapher für das Gepanzerte, Malmende, Unbewegliche, Kursgefesselte der Revolution. Eisen, das birgt und ausspeit: »Alle Verräter, die recht hatten, kippten aus dem Wagen.«
Bringt man diese Dichter auf einen Nenner, so lautet der: Wirklichkeit entlarvt Ideologie. Der Mensch ist in Strudel hineingeworfen, die er vergeblich mit Idealismus zu übersteigen versucht – am Ende bleibt wenig. Drei Autoren erzählen eine Welt, darin man den Sand im Getriebe knir- schen hört. Das Gehen voran, das Gehen mit der Zeit – und immer noch nichts zu sehen vom hellen Gipfel? Gut so, denn wir müssen erkennen, dass es in die dunkle Tiefe geht. Wie es war, wird es bleiben: Die Zeiten wechseln ins Beständige – nämlich in die nächste Unvernunft. Die sich bestimmt auch wieder Aufbruch nennt. Doch was aufbricht, sind die alten Wunden.
»Ich bin mein Gegner«, heißt es in Brauns »Eisenwagen«. Und bei Thomas Brasch hängt jemand wechseln- de Bilder an die Wand, Lenin, Stalin, Pieck, Ulbricht. Schließlich das Bild der eigenen Frau, und ganz zum Schluss einen Spiegel: »... und sah hinein./ Wer ist das?, schrie er,/ kann man denn nie allein sein.« Im »Fahrstuhl«-Monolog Müllers spricht der Mann vom »Doppelgänger mit meinem Gesicht aus Schnee. Einer von uns wird überleben.« Wer wen? Dies öde Rezept? Braun: »Die Frage wer wen, aus dem Spielchen der letzten Jahrtausende, hatte eine Antwort vorweggenommen, die keine ist. Eine Antwort, die eine ist, musste nach allen fragen.« Nach allen Menschen aber kann der gestanzte Klassenkämpfer nicht fragen. Er muss das Ganze entzweischlagen: links, rechts, Klassenfreund, Klassenfeind. Von allem bloß die Hälfte, nur die eine Wahrheit ganz – die doch stets weniger ist als die Hälfte.
Brasch, Müller, Braun: Dichtung nicht als Verbandsplatz für die bürgerliche Seele, sondern als Emanzi-pationswerkstatt für einen Material-ismus, der immer Material bleibt – das Gegenteil von Beton. Dichtung, die aufmunternd den Kopf – senkt. Hinunter in die Gruben der Baustellen, wo die Gründe ausgehoben werden – für den nächsten fundamentalen Irrtum geschichtlichen Strebens? Der Lauf der Welt steht uns in dieser harten Poesie vor den Augen – die wir nicht niederschlagen sollten, nur weil die Horizonte flacher wurden. Gestern: der Mensch in der Revolte. Morgen: der Mensch in der Retorte. Heute: der Mensch in der Resignation? Heute wie immer. Es gibt aber Hoffnung. Der Dichter Stefan Schütz, dem vor einiger Zeit ebenfalls ein Abend am BE gewidmet war, schrieb: »Nehmt die Kerzen aus dem Fenster und steckt eure Vorhänge an. Ich mag Lichtblicke.«
Der Mensch räumt auf, räumt ab, räumt um – nur, um nicht einräumen zu müssen: Er selber ist es, der sich im Wege steht.