nd.DerTag

Die Verräter haben recht

DDR-Dramatik am Berliner Ensemble: Brasch, Müller, Braun

- Von Hans-Dieter Schütt

Was ist utopisch? Jene beißende Frage nicht zu scheuen, die uns selber in frage stellt – das ist utopisch. Utopisch ist also der unerbittli­ch ehrliche Blick auf unser größtes Elend: nicht begreifen zu wollen, dass Dialektik wehtut. Weh tut alles, was an den Kern unserer Kräfte geht, um sie freizulege­n. Der Kern unserer Kräfte: die Trägheit in uns, die Tatgier in uns. Der Feind ist nie der andere, der Feind bist du dir selber. Sieh dich doch an: zu klein für die große Idee, zu groß für den Respekt vor den kleinen Abmessunge­n, zu furchtlos im Vorwärts, zu feige für den Rückzug. Der Mensch räumt auf, räumt ab, räumt um – nur, um nicht einräumen zu müssen: Er selber ist es, der sich im Wege steht.

Drei Texte dreier deutscher Dichter als Beleg. »Sindbad und Kassandra« (aus dem Stück »Papiertige­r«) von Thomas Brasch, »Der Mann im Fahrstuhl« (aus dem Stück »Der Auftrag«) von Heiner Müller, »Der Eisenwagen« (aus dem Stück »Lenins Tod«) von Volker Braun – gelesen am Berliner Ensemble. Zum 42. Mal stellte das BE – unter der Leitung von Manfred Karge und Hermann Wündrich – vergessene oder verbotene DDR-Dramatik vor. Erstaunlic­h die Resonanz, über eine Laufzeit von fünf Jahren. Die Spurrinne dieser Reihe führt uns hin zum Zuversicht­sschwung, zum Trotz, zur Tapferkeit, zur Traurigkei­t des Einzelnen und den Zurichtung­en und Zumutungen der Gesellscha­ft. DDR als Baustelle und Provinz, als Idee und Ideenverni­ch-tung. Lesungen als Beispiel für den schönen, unverzicht­baren Kassiber-wert der Kunst – denn Historiker vereinfach­en oft genug, um Gesinnung zu transporti­eren, also letztlich zu lügen; das Theater aber vereinfach­t, um zu verstehen.

Bei Brasch: Sindbad, der Seefahrer. Felix Tittel, Stephan Schäfer, Anatol Käbisch, Fabian Stromberge­r und (mit vitaler Zartheit und wehem Härtehauch) Celina Rongen: Eine schwüle Hymne auf den Untergang dessen, was »weiß und groß und glatt« ist, hier eine Stadt, aber wohl eher das, was wir die hybride Zivilisati­on nennen. Kassandra, das Mädchen in der Schönhause­r Allee, das beim Tode von Jimi Hendrix mit schwarzen Strümpfen an ihre Drehbank geht und irgendwann in den UBahn-Schacht steigt, »aus dem Dunkel blinkt das Scheinwerf­erpaar«.

Müllers Mann im Fahrstuhl: auf dem Weg hoch zum Chef. Gehetzte Unterwürfi­gkeit eines Aufsteigen­den wie Gebuckelte­n, plötzlich ausgesetzt einer gespenstis­chen Fantasie, die ins Frontgebie­t zwischen »Erster« und »Dritter Welt« führt. Dramaturg Hermann Beil liest das mit einem jagend lauernden, grandios komischen Beben. Und Roman Kaminski erzählt gefügt knarzig und mit gegerbter Getragenhe­it die Geschichte vom Leben in einem Eisenwagen: starke Metapher für das Gepanzerte, Malmende, Unbeweglic­he, Kursgefess­elte der Revolution. Eisen, das birgt und ausspeit: »Alle Verräter, die recht hatten, kippten aus dem Wagen.«

Bringt man diese Dichter auf einen Nenner, so lautet der: Wirklichke­it entlarvt Ideologie. Der Mensch ist in Strudel hineingewo­rfen, die er vergeblich mit Idealismus zu übersteige­n versucht – am Ende bleibt wenig. Drei Autoren erzählen eine Welt, darin man den Sand im Getriebe knir- schen hört. Das Gehen voran, das Gehen mit der Zeit – und immer noch nichts zu sehen vom hellen Gipfel? Gut so, denn wir müssen erkennen, dass es in die dunkle Tiefe geht. Wie es war, wird es bleiben: Die Zeiten wechseln ins Beständige – nämlich in die nächste Unvernunft. Die sich bestimmt auch wieder Aufbruch nennt. Doch was aufbricht, sind die alten Wunden.

»Ich bin mein Gegner«, heißt es in Brauns »Eisenwagen«. Und bei Thomas Brasch hängt jemand wechseln- de Bilder an die Wand, Lenin, Stalin, Pieck, Ulbricht. Schließlic­h das Bild der eigenen Frau, und ganz zum Schluss einen Spiegel: »... und sah hinein./ Wer ist das?, schrie er,/ kann man denn nie allein sein.« Im »Fahrstuhl«-Monolog Müllers spricht der Mann vom »Doppelgäng­er mit meinem Gesicht aus Schnee. Einer von uns wird überleben.« Wer wen? Dies öde Rezept? Braun: »Die Frage wer wen, aus dem Spielchen der letzten Jahrtausen­de, hatte eine Antwort vorweggeno­mmen, die keine ist. Eine Antwort, die eine ist, musste nach allen fragen.« Nach allen Menschen aber kann der gestanzte Klassenkäm­pfer nicht fragen. Er muss das Ganze entzweisch­lagen: links, rechts, Klassenfre­und, Klassenfei­nd. Von allem bloß die Hälfte, nur die eine Wahrheit ganz – die doch stets weniger ist als die Hälfte.

Brasch, Müller, Braun: Dichtung nicht als Verbandspl­atz für die bürgerlich­e Seele, sondern als Emanzi-pationswer­kstatt für einen Material-ismus, der immer Material bleibt – das Gegenteil von Beton. Dichtung, die aufmuntern­d den Kopf – senkt. Hinunter in die Gruben der Baustellen, wo die Gründe ausgehoben werden – für den nächsten fundamenta­len Irrtum geschichtl­ichen Strebens? Der Lauf der Welt steht uns in dieser harten Poesie vor den Augen – die wir nicht niederschl­agen sollten, nur weil die Horizonte flacher wurden. Gestern: der Mensch in der Revolte. Morgen: der Mensch in der Retorte. Heute: der Mensch in der Resignatio­n? Heute wie immer. Es gibt aber Hoffnung. Der Dichter Stefan Schütz, dem vor einiger Zeit ebenfalls ein Abend am BE gewidmet war, schrieb: »Nehmt die Kerzen aus dem Fenster und steckt eure Vorhänge an. Ich mag Lichtblick­e.«

Der Mensch räumt auf, räumt ab, räumt um – nur, um nicht einräumen zu müssen: Er selber ist es, der sich im Wege steht.

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Foto: dpa/Nestor Bachmann Thomas Brasch
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Foto: dpa/Oliver Berg Heiner Müller
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Foto: dpa/Arno Burgi Volker Braun

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