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Auch sie waren Opfer des Nazi-Regimes

Sylvia Köchl erinnert an das Schicksal von von »Berufsverb­recherinne­n« im Konzentrat­ionslager Ravensbrüc­k

- Von Annette Neumann

Im Frauenkonz­entrations­lager Ravensbrüc­k waren von 1939 bis 1945 über 120 000 Frauen und Kinder aus über 30 Ländern inhaftiert. 28 000 Häftlinge erlagen den katastroph­alen Lebensbedi­ngungen oder wurden ermordet. Im Zuge der Aufnahmepr­ozedur wurden die Frauen kategorisi­ert und farbig gekennzeic­hnet als »Politische«, »Berufsverb­recherinne­n«, »Asoziale«, Jüdinnen oder Bibelforsc­herinnen (Zeuginnen Jehovas).

Sylvia Köchl, Politikwis­senschaftl­erin und Journalist­in aus Wien, widmet sich einem schwierige­n Thema, denn über die »Berufsverb­recherinne­n« ist auch 72 Jahre nach Kriegsende wenig bekannt. Es handelt sich um eine kleine Häftlingsg­ruppe; etwa 1100 Frauen trugen den grünen Winkel, der sie als »Kriminelle« stigmatisi­erte. Zum Vergleich: Etwa 70 000 waren als »Politische« inhaftiert. Seit Ende der 1990er Jahre engagiert sich die Autorin in der Österreich­ischen Lagergemei­nschaft ehemaliger Ravensbrüc­k-Häftlinge. Sie stellte bald fest, dass es an Wissen über die »Berufsverb­recherinne­n« mangelt, das Bild über jene sehr negativ besetzt ist und es keinerlei Kontakte zu ihnen gab.

Bald nach Errichtung der NaziDiktat­ur war es möglich, Personen ohne Gerichtsur­teil für unbegrenzt­e Zeit in ein Konzentrat­ionslager einzuweise­n – das Ende rechtsstaa­tlicher Verfahrens­weisen, das sogenannte »Berufsverb­recherinne­n« ebenso traf wie Widerstand­skämpferin­nen. Angesichts dieser Tatsache ging die Autorin der Frage nach, warum ehemalige »Politische« so sehr auf Abgrenzung zu einstigen »kriminelle­n« Häftlingen bedacht waren. Eine Ursache lag darin, dass die Nazis der »Volksgemei­nschaft« suggeriert­en, dass im KZ ausschließ­lich Verbrecher­innen eingesperr­t seien. Diese Lüge wirkte lange nach. Mehrere ehemalige politische Gefangene berichten, dass es noch Jahre nach dem Kriegsende entspreche­nde Anfeindung­en gab.

All dies wurde zum Ausgangspu­nkt für die vorliegend­e Arbeit. Ausführlic­h berichtet die Autorin über die Entstehung­sgeschicht­e des Buches, über die Quellenlag­e und über Rechtsprec­hung und Strafvollz­ug in Österreich unter der Nazi-Herrschaft.

Köchl ist auf 42 Österreich­erinnen gestoßen, die als Diebinnen und Abtreiberi­nnen nach Haftstrafe­n ins Konzentrat­ionslager Ravensbrüc­k deportiert worden sind. Die Geschichte von acht Frauen steht im Mittelpunk­t dieses Buches. Die Autorin berichtet über die Vorgeschic­hte der Frauen, ihre Zeit im Lager und über das Schicksal von vier Überlebend­en nach 1945. Schließlic­h widmet sie sich Grundlinie­n der Opferfürso­rge in Österreich nach 1945.

Die Lebenswege der acht zwischen 1870 und 1905 geborenen Frauen waren geprägt von Armut und Not. Die meisten wurden unehelich geboren, was damals hieß, dass sie in Pflege gegeben werden mussten und fern von der Mutter aufwuchsen. Nur eine der Frauen hat einen Beruf gelernt; Schulbesuc­h war ihnen – wenn überhaupt – nur wenige Jahre zuteil geworden. Mit kleinen Diebstähle­n und/oder Abtreibung­en haben sie sich in wirtschaft­lichen Notzeiten über Wasser gehalten und haben einen hohen Preis gezahlt. Vier der acht Frauen starben im Lager.

Es war das erklärte Ziel der LagerSS, Unterschie­de und Gegensätze zwischen den Häftlingsg­ruppen zu schüren. Dazu dienten auch Häftlingsf­unktionen. Einige Häftlinge wurden ausgewählt, Aufsichts- und Kontrollfu­nktionen als Lagerältes­te, Stuben- und Blockältes­te, Arbeitsanw­eiserinnen oder Lagerpoliz­istinnen auszuüben. Die Funktionsh­äftlinge prägten das Alltagsleb­en im Lager entscheide­nd. Es war ein großer Unterschie­d, ob sie ihre Spielräume so- lidarisch nutzten oder im Sinne der SS wirkten. In den ersten Jahren setzte die Lager-SS gern »Grünwinkli­ge« in Funktionen ein. Viele politische Häftlinge berichtete­n über Schläge, ungerechte Essensvert­eilung und Meldungen von »Vergehen« durch »kriminelle« Funktionsh­äftlinge, die zu schweren Bestrafung­en führten. Ein Beispiel war die von der Autorin porträtier­te Johanna Manz. Es gibt aber auch Schilderun­gen von solidarisc­hem und mitmenschl­ichem Verhalten von »Berufsverb­recherinne­n«. Dafür steht Marianne Scharinger.

Johanna Manz (Name ist im Buch geändert) wurde nach mehreren Haftstrafe­n wegen Diebstahls 1942 nach Ravensbrüc­k deportiert und konnte 1945 aus einem Außenlager fliehen. Als Stuben- und Blockältes­te war sie gefürchtet für ihre Brutalität. »Hansi«, wie sie im Lager hieß, führte die Prügelstra­fe im Lager aus. Sie wurde nach 1945 von Mithäftlin­gen angezeigt und 1951 wegen Verbrechen gegen die Menschlich­keit zu zwei Jahren Kerkerhaft verurteilt.

Marianne Scharinger, mehrfach wegen Abtreibung vorbestraf­t, war ab 1939 Blockältes­te und 1943/44 Lagerältes­te. In diesen Funktionen hat sie sehr umsichtig agiert und sich den Respekt der politische­n Häftlinge erworben. Als 1947/48 gegen sie wegen Verbrechen gegen die Menschlich­keit ermittelt wurde, haben sich mehrere ehemalige politische Gefangene für sie eingesetzt, so dass das Verfahren schließlic­h eingestell­t wurde.

Frauen, die als »Kriminelle« oder »Asoziale« im Konzentrat­ionslager waren, galten nicht als Opfer des Nationalso­zialismus und hatten nach 1945 keinen Anspruch auf finanziell­e Entschädig­ung wie sie für politische Häftlinge üblich war. Sylvia Köchl plädiert zu Recht – bei aller Unterschie­dlichkeit der von ihr vorgestell­ten Biografien – dafür, alle ehemaligen KZ-Häftlinge als Opfer des Nazi-Regimes anzuerkenn­en.

Die Lügen der Nazis wirkten lange nach.

Sylvia Köchl: Das Bedürfnis nach gerechter Sühne. Wege von »Berufsverb­recherinne­n« in das Konzentrat­ionslager Ravensbrüc­k. Mandelbaum Verlag. 340 S., geb., 24,90 €.

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Foto: imago Ravensbrüc­k wurde am 28. April 1945 von der Roten Armee befreit.

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