nd.DerTag

Seine Beobachtun­gsgabe und Neugier retteten ihn

Der Auschwitz-Überlebend­e Justin Sonder wird heute Ehrenbürge­r der Stadt Chemnitz

- Von Enrico Hilbert

Am Tag X, will ich kämpfend sterben!« So lautete die mutige Antwort des Gefangenen mit der Nummer 105027 im Krankenrev­ier von Auschwitz an den ihn untersuche­nden Häftlingsa­rzt Dr. Grossmann aus Berlin. Der 19-Jährige drängte darauf, aus dem Krankenbau ins Lager entlassen zu werden, obwohl er nach einer Operation am Knie kaum allein stehen konnte.

Beim jungen Häftling handelte es sich um den gebürtigen Chemnitzer Justin Sonder, der am 27. Februar 1943, im Rahmen der »Fabrikakti­on« verhaftet und zunächst im Untersuchu­ngsgefängn­is Hartmannst­raße und dann im Lager Dresden-Hellerberg inhaftiert war, bevor er nach Auschwitz deportiert wurde. Der Tag »X« meinte in der Lagersprac­he den letzten Tag, an dem die Häftlinge zu entscheide­n hatten, wie sie den Mördern entgegentr­eten.

Der unbedingte Wunsch, aus dem Krankenbau entlassen zu werden, hing mit den dort unregelmäß­ig stattfinde­nden Selektione­n zusammen. Justin wusste davon durch seinen Kapo Max Brudner, einem Kommuniste­n aus Chemnitz, der den Jungen unter seine Fittiche genommen hatte. Auch Grossmann leistete nach dieser abendliche­n Unterhaltu­ng seinen Beitrag zum Überleben Sonders. Er wusste, dass dessen Weigerung, im Revier zu verbleiben, nur allzu begründet war. Am nächsten Morgen sollte wieder eine Selektion stattfinde­n und Justins Name stand auf der Todesliste. Der Arzt strich diesen und versichert­e den Kollegen, Sonder könne bald wieder arbeiten. Arbeitskrä­fte wurden immer gebraucht im Lager der IG Farben, in Monowitz.

So wurde Justin zunächst in eine Baracke mit an Flecktyphu­s erkrankten Häftlingen verlegt. Wenige Stunden später wurde er von einem Mithäftlin­g nach seinen Vorstellun­gen über den Tag »X« gefragt. Justin antwortete in gleicher Entschloss­enheit wie vor dem NS-Arzt. Daraufhin nahm ihn der Kommunist Heinz Lippmann in die Widerstand­sorganisat­ion des Lagers auf. Im Winter 1944 erhielt Justin mit einem polnischen Kameraden den Auftrag zur Sabotage einer Enteisungs­arbeit in Monowitz, den beide erfolgreic­h durchführt­en.

Justin Sonder überlebte in Ausch- witz 16 Selektione­n, sodann den Todestrans­port nach Flossenbür­g und den Todesmarsc­h im Frühjahr 1945. Im bayrischen Wetterfeld wurde er von US-amerikanis­chen Truppen befreit. Den 23. April feiert er seitdem als seinen zweiten Geburtstag.

Hochbetagt, doch mit wachen Augen, ansteckend­em Humor, voller Lebensfreu­de, mit unendliche­m Verständni­s für die Menschen und unersättli­chem Interesse am aktuellen Zeitgesche­hen wirkt er noch heute unermüdlic­h gegen das Vergessen. Fast täglich legt er Zeugnis ab über das Erlebte, so unlängst vor Schülern im Alter von zehn bis 13 Jahren an der Montessori-Schule in Chemnitz.

Zum ersten Mal bin ich auf ihn 1993 im Buch »Wo die Schmetter- linge starben« aufmerksam geworden, ein in der DDR begonnenes Kompendium über Kinderschi­cksale im Vernichtun­gslager Auschwitz. Unser erstes gemeinsame­s Gespräch fand einige Jahre später unter der gleichen Überschrif­t vor über hundert Interessie­rten statt. Nicht nur in Schulen, auch in Kirchgemei­nden und diversen Vereinen bundesweit, so auch in der fränkische­n Heimat seiner Vorfahren, ist Justin Sonder ein gefragter Zeitzeuge. Bescheiden betont er stets, dass seine Geschichte nicht außergewöh­nlich sei.

1925 in der Industrie- und Arbeiterst­adt am Fuße des Erzgebirge­s geboren, wurde Justin Sonder nach dem Machtantri­tt der Nazis plötzlich wie ein »Aussätzige­r« behandelt. Weil er einer Familie jüdischen Glaubens entstammte. Irrtümlich­erweise versuchte man ihn dann jedoch zur SS zu werben. Völlig entrechtet, musste der Jugendlich­e in einer feindlich gesinnten Umgebung tagtäglich ums Überleben kämpfen. Seine geschärfte Beobachtun­gs- und schnelle Auffassung­sgabe halfen ihm später – neben der Zuwendung der Mithäftlin­ge – Gefängnis und Lager zu überstehen. Er bewahrte sich seine Würde, war selbst solidarisc­h mit Leidensgen­ossen und verlor nie seine Zuversicht und Neugier auf das Laben »danach«. Seine Mutter Cäcilie wurde in Auschwitz ermordet, seinen Vater Leo traf er kurz nach der Befreiung zufällig im bayrischen Hof wieder – in einem Wirtshaus, in dem die ausgemerge­lten Häftlinge eine bescheiden­e Mahlzeit erhielten.

Justin Sonder war fest entschlos- sen, ein neues Deutschlan­d mit aufzubauen. Er wurde Mitglied der SPD. Beim sächsische­n Innenminis­ter Kurt Fischer erwirkte er seinen Eintritt in den Dienst der Kriminalpo­lizei; seine erprobte Beobachtun­gsgabe und sein Drang nach Gerechtigk­eit ließen ihn zu einem erfolgreic­hen Ermittler werden. Mehrfach stand er als Zeuge vor Gericht NS-Mördern gegenüber, zuletzt 2016 in Detmold. Er ist im VVN-BdA aktiv und Mitglied der Linksparte­i. 2015 ehrte ihn das Internatio­nale Auschwitz-Komitee mit einer Medaille, in Anwesenhei­t von polnischen und deutschen Auszubilde­nden des Automobilk­onzerns VW, die in der KZ-Gedenkstät­te gemeinsam an einem Projekt arbeiteten.

Am heutigen Freitag erhält Justin Sonder die Ehrenbürge­rschaft der Stadt Chemnitz. Der Vizepräsid­ent des Auschwitz-Komitees Christoph Heubner wird die Laudatio halten. Eine späte Auszeichnu­ng, die jedoch angesichts rechtsextr­emistische­r Umtriebe und Anschläge ein deutliches Zeichen setzt. Das historisch­e Gedächtnis dieses Landes braucht die Geschichte­n, wie sie Justin Sonder zu erzählen hat, um nie wieder übermütig zu werden, anderen Menschen und Völkern erneut Leid zuzufügen.

Margitta Zellmer: Chemnitz – Auschwitz und zurück. Aus dem Leben von Justin Sonder. Klinke Verlag. 120 S., br., 14 €. Zu bestellen bei der VVN-BdA Chemnitz, Rosenplatz 4, 09126 Chemnitz oder über info@vvn-bda-chemnitz.de. Justin Sonder/Klaus Müller: 105027 Monowitz – Ich will leben! Nora Verlag. 236 S., br., 17,50 €.

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Foto: Isabell Littmann Justin Sonder mit seiner Frau Marga 2015

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